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Er hieß Erwin Traun, und er war ein Jahr älter als Heinz Steinfeld, und sie waren Freunde geworden in der Waffen-SS. Sie gehörten zum gleichen Zug der gleichen Kompanie, sie stammten beide aus Wien, und Heinz bewunderte den starken und großen Erwin. Erwin bewunderte an Heinz dessen Intelligenz und Tapferkeit, die schon an Tollkühnheit grenzte. Der 15. März 1945 war ein warmer, schöner Tag mit Sonnenschein und blauem Himmel. Auf den Wiesen wuchs neues Gras, der Schnee war fortgeschmolzen. An eine in größter Eile westlich der Donau angelegte Verteidigungslinie mit Gräben, Panzersperren, Stacheldrahtverhauen und Mienenfeldern waren starke Einheiten verschiedener SS-Divisionen geworfen worden, denn die Sowjets standen nun, nach der Einnahme von Budapest im Februar, unmittelbar vor dem Angriff auf Wien. Riesige Mengen von Menschen zogen sie in ihren Bereitschaftsräumen zusammen, um beiderseits der Donau vorzustoßen.
Am Vormittag dieses 15. März war es in dem Abschnitt, in dem die Kompanie lag, zu der Erwin Traun und Heinz Steinfeld gehörten, völlig still. Kein Schlachtflieger dröhnte über den Himmel, nicht ein Schuß fiel, die Artillerie schwieg. Es war, jeder wußte das, die Ruhe vor dem Sturm. In einem hastig ausgehobenen Graben hockten Erwin und Heinz hinter einem schweren Maschinengewehr und beobachteten unausgesetzt das andere Ufer der schmalen Raab, die hier, nahe der Stadt Györ, vorüberfloß. Ihr Wasser war klar, an den Ufern sah man helle Kiesel und dunklen, spitzen Schotter. Von der Verteidigungslinie fiel das Gelände flach über Wiesen und Felder zum Fluß ab. Jenseits der Raab gab es dichten Wald. Aus ihm, das war klar, würden in Kürze die Sowjets zum Angriff heraus antreten.
»Mensch«, sagte Erwin Traun, seinen Stahlhelm aus der Stirn zurückschiebend, »wenn es nun losgeht, dann halten wir den Iwan hier keinen halben Tag auf, das ist dir wohl klar.«
»Wir müssen ihn aufhalten!« Heinz Steinfeld, an dem schweren MG, sprach leidenschaftlich: »Wir bekommen Verstärkungen.«
»Verstärkungen, mein Arsch«, sagte Erwin. »Woher denn?«
»Von Norden. Eine ganze Armeegruppe. Armeegruppe Donau!«
»Heinz! Im Norden steht der Iwan schon an der Donau! Da kommt kein Schwein mehr durch! Deine Armeegruppe Donau, die gibt’s nicht!«
»Es gibt sie! Der Alte hat es gesagt, gestern abend. Und der Alte lügt nicht! Sie haben die Russen zurückgeschlagen im Norden. Wenn die erst hier sind, dann wird vielleicht was losgehen! Warum, glaubst du, wartet der Iwan ab? Warum bleibt er in den Wäldern drüben und kommt nicht über den Fluß?«
»Scheißhausparolen«, schimpfte Erwin. »Wo soll die denn abgezogen worden sein, die Armeegruppe Donau, kannst du mir das sagen? Gibt’s überhaupt noch eine heile, eine ganze Armeegruppe? Wir sind verraten und verkauft hier unten! Wir werden den Arsch so vollkriegen, daß wir Gott danken können, wenn wir nicht alle verrecken!«
»Halt sofort deine Fresse, du feige Sau!«
Erwin fuhr herum. Erschrocken sah er seinen Freund an.
»Wie redest du denn?« zischte Heinz. »Bist du verrückt geworden? Wir müssen diesen Kampf gewinnen – es wäre sonst das Ende Deutschlands! Das Ende des Abendlands! Aber wir werden siegen – die neuen Wunderwaffen stehen unmittelbar vor dem Einsatz! Wenn wir erst mit ihnen losschlagen, wird die Welt den Atem anhalten! Und da quatscht ein blöder Hund wie du von Arsch vollkriegen! Das ist … das ist …« Heinz wischte sich Speichel vom Mund und murmelte: »Entschuldige, ich hab es nicht so gemeint! Sag doch etwas. Sag, daß du wieder gut bist!« Jetzt war Heinz’ Gesicht ganz kindlich unter dem schweren Stahlhelm. »Erwin, bitte! Ich hab auch was für dich! Schokolade! Du bist doch so verrückt nach Schokolade. Ich habe einen ganzen Riegel … warte, ich gebe ihn dir …«
»Ach, Scheiße. Ist ja schon wieder in Ordnung.«
»Nein, du sollst ihn haben.« Heinz richtete sich auf, um den Brotbeutel zu öffnen, der hinter ihm an einer Wurzel hing. Sein Kopf tauchte dabei über den Grabenrand. Im nächsten Moment hörte man den Abschuß einer ›Ratschbumm‹.
Erwin Traun warf sich auf den Boden, das Gesicht in die feuchte Erde gepreßt. Die Granate, jenseits der Raab abgefeuert, explodierte Sekundenbruchteile später direkt über ihnen. Erwin hörte das Krachen und Schwirren der Splitter. Er preßte sich in den Dreck. Neben sich fühlte er plötzlich den Körper seines Freundes.
»Du dämlicher Hund«, fluchte Erwin. »Was mußt du deine Nase auch in die Luft stecken! Na, ist ja noch mal gutgegangen.« Er richtete sich etwas auf und schrie unterdrückt: »Heinz!«
Heinz Steinfeld lag auf dem Rücken, die Augen weit aufgerissen, die Zähne entblößt. Bei jedem Atemzug quoll ein Schwall Blut aus seinem Mund. Blut sickerte auch aus der zerfetzten Uniformbluse über der linken Brustseite, mehr, mehr, entsetzlich viel Blut, der Grabenboden wurde rot, und in dem Blut, das da verströmte, lag ein Stück Schokolade …
»Heinz … Heinz …« Erwin Traun kniete nun neben dem Verwundeten. Er brüllte, so laut er konnte: »Sanitäter! Hierher! Schnell! Beeilt euch, ihr Säcke! Steinfeld hat es erwischt!«
Stimmen aus der Umgebung antworteten.
Erwin neigte sich über Heinz.
»Sie kommen schon, Junge, sie kommen. Gleich sind sie da …«
Mit einem Verbandpäckchen versuchte er das Blut zu stillen, das aus Heinz’ Brust schoß. Der Mull war sofort durchtränkt. Ein großer Splitter mußte Heinz getroffen haben. Sein Atem ging nun plötzlich flacher, langsamer, das Blut quoll hellrot aus seinem Mund. Das Gesicht war weiß.
Erwin Traun legte dem Freund eine Hand auf die Stirn, wischte den Schweiß fort, hörte Heinz etwas sagen, erstickt, unverständlich durch das Blut, das dieser dauernd erbrach.
»Nicht reden … red nicht, Heinz …«
»Deutschland«, gurgelte Heinz Steinfeld plötzlich, deutlich verständlich. Er hob den Kopf und sah seinen Freund aus schon blicklosen Augen an.
»Deutschland wird …«
Der Kopf fiel zurück.
Durch den Graben hörte Erwin Traun Stiefel herantrampeln. Die Sanitäter, dachte er, während Tränen über seine Wangen rollten. Sie kommen zu spät. Er ist tot. Heinz ist tot …