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»… machten sich sofort auf zur Unglücksstätte. Sie brauchten für den Weg fast zwei Stunden. Als sie endlich eintrafen, konnten sie an die Anlagen nicht näher als zwei Kilometer heran, denn hier brannte immer noch alles, die Luft war von Qualm und Rauch verpestet, und die Temperaturen, die durch das Großfeuer entstanden waren, hatten enorme Höhen erreicht«, berichtete Juan Cayetano.
Er saß, Manuel gegenüber, an einem Tischchen in der kreisrunden gläsernen Espresso-Bar auf dem Cobenzl. Unter ihnen lief die freigeräumte Höhenstraße, über deren Serpentinen sie den Berg heraufgekommen waren. Von ihrem Platz aus sahen sie ganz Wien, ein Meer von Häusern, Palästen, Kuppeln und Kirchen, die Donau, ihre Brücken, das Land dahinter. Am Morgen hatte der Schneefall aufgehört, zwei Stunden später war die geschlossene Wolkendecke zerrissen. Jetzt, gegen 16 Uhr, ließ eine schon tief im Westen stehende Sonne Millionen Fenster der leuchtenden Stadt glühend aufstrahlen. Bei klarer Sicht war der Anblick von hier oben stets überwältigend. Darum blieb das Espresso auch das ganze Jahr geöffnet, während die angeschlossenen Großbetriebe – Restaurants und Bars, die sich über ein weites Gelände erstreckten – im Winter schlossen.
»Das ist am vierzehnten passiert«, sagte Manuel, der Cayetano mit steigender Erregung gelauscht hatte. »Am dreizehnten bin ich abgeflogen. Heute schreiben wir den einundzwanzigsten. Warum haben Sie mich nicht angerufen und mir das alles längst erzählt? Warum haben Sie nichts gesagt, als Sie von Paris aus mit mir sprachen?«
»Es war mir verboten«, sagte Cayetano, ein großer, schwerer Mann in den Fünfzigern, mit dunklen Tränensäcken. Er fror in dem überheizten Lokal. Cayetano war gegen Mittag gelandet und hatte mit den beiden Anwälten, die ihn begleiteten, im ›Ritz‹ auf Manuel gewartet. Dieser war erst am Nachmittag erschienen. Er hatte noch die Familie Roszek in das Lager der ›Jewish Agency‹ bringen müssen. Irene war mit der Straßenbahn zur Möven-Apotheke gefahren. Manuel hatte die Anwälte um Entschuldigung gebeten und sich mit Cayetano sofort auf den Weg hierherauf gemacht, nachdem er zu seiner Verblüffung dem Hofrat Groll begegnet war …
»Was machen Sie im ›Ritz‹?«
Der rundliche Mann hatte seine Virginier gemustert und den silberhaarigen Kopf gewiegt.
»Graf Romath ist einem Unglück zum Opfer gefallen.«
»Was?«
»Leise.«
»Aber wie …«
Groll berichtete schnell, was Romaths Putzfrau an diesem Morgen entdeckt hatte, als sie zur Arbeit kam.
»Vielleicht war es wirklich ein Unfall?«
»Die Beamten, die den Fall untersuchen, sind davon überzeugt.«
»Sie nicht?«
»Ich nicht. Gar nicht. Deshalb habe ich mich hier ein wenig umgesehen. Der Sender, den der Graf in seinem Büro hatte, ist verschwunden. Der Receptionschef – der Dienstälteste hier – hat provisorisch die Leitung des Hotels übernommen. Alle sind sehr betroffen oder tun so. Und man hat mich händeringend gebeten, kein Aufsehen zu erregen. Sie wollen es unbedingt bei dem Unglücksfall bleiben lassen – verständlich.«
Dieses Gespräch fand in der vorderen Halle statt, gleich nachdem Manuel ins Hotel gekommen war. Sie unterhielten sich flüsternd miteinander.
»Sie glauben an Mord?«
»Nein.«
»Woran dann?«
»Selbstmord«, antwortete Groll. »Ich kannte den Grafen lange. Er war ein … er hatte seine Besonderheiten. Und er war in Ihren Fall verwickelt, das wissen wir. Ich könnte mir gut vorstellen, daß man etwas von ihm verlangt hat, was er nicht zu tun bereit war. Dank seiner Veranlagung konnte man ihn erpressen. Es blieb ihm kein anderer Ausweg. Um das Hotel und seinen Namen zu schützen, inszenierte er einen Selbstmord, der genau wie ein Unfall aussah … so etwa.«
»Mein Gott!«
»Unterhalten Sie sich ab sofort mit niemandem mehr über unseren Fall in Ihrem Appartement oder überhaupt im Hotel«, sagte Groll. »Sie werden mir recht geben, wenn ich meine, daß das nun zu gefährlich ist. Unsere Freunde wissen sicher auch längst Bescheid.«
Das stimmte. Santarin und Grant waren durch den Hauselektriker Nemec informiert worden. Der Russe hatte sich trotz aller Verärgerung beeindruckt von der Tat des Aristokraten gezeigt, Grant nur geflucht. Sie benötigten Ersatz für Romath – und wo war der so schnell zu beschaffen?
»Noch etwas«, sagte Groll. »Tragen Sie die Fotografien dieses Penkovic und den Zettel aus Valerie Steinfelds Fotoschatulle bei sich?«
»Ja.«
»Geben Sie mir alles. Ich stecke es in ein Kuvert und schicke es an Doktor Stein. Er soll es auch in den Tresor legen.«
»Sie meinen, daß man von dem Grafen verlangt hat, diese Sachen zu stehlen?«
»So etwas Ähnliches muß es gewesen sein«, hatte Groll geantwortet und die Fotografien und das vergilbte Papier in Empfang genommen. »Ihre Freunde warten schon auf Sie. Fahren Sie mit dem Vertreter Ihres Vaters weg, wenn Sie jetzt mit ihm sprechen.«
»Wohin?«
»Irgendwohin. Auf den Cobenzl, zum Beispiel. Da gibt es eine sehr hübsche Espresso-Bar. Der Weg ist nicht zu verfehlen.«
»Um neunzehn Uhr habe ich mit meinem Botschafter ein Treffen vereinbart.«
»Zeit genug also …«
So war Manuel mit Cayetano auf dem Cobenzl gelandet und hatte sich angehört, was geschehen war.
»Verboten?« sagte er jetzt zu Cayetano. »Wer hat es Ihnen verboten?«
»Unsere Staatspolizei. Wir haben seit der Katastrophe Beamte in der Zentrale sitzen. Ich bin verhört worden, wir alle wurden verhört. Da ist der Teufel los, kann ich dir sagen, Manuel.«
»Aber wieso?«
»Laß mich weitererzählen. Die Leute aus La Copelina konnten nichts ausrichten. Nicht das Geringste. Vollkommen hilflos standen sie vor dem höllischen Flammenmeer. Wie die Untersuchung später ergab, waren Bomben mit Napalmfüllung und Zeitzünder explodiert – in solcher Anordnung und Reihenfolge, daß nichts, aber auch nichts von dem Werk übrigbleiben konnte.«
»Weiter! Weiter!«
Cayetano sagte: »Von La Copelina aus alarmierten die Leute Buenos Aires. Man rief mich an. Das Innenministerium schaltete sich sofort ein, ebenso das Verteidigungsministerium.«
»Das Verteidigungsministerium? Ich begreife nicht …«
»Ich hatte es alarmiert.«
»Sie? Aber warum?«
»Du kannst dir wirklich nicht denken, warum?«
»Nein!« rief Manuel, sehr verwirrt.
»Hm …« Cayetano starrte auf die Tischplatte. »Nun ja«, sagte er nach einer Pause. »Dann ist also wirklich alles so, wie ich dachte.«
»Was dachten Sie?«
»Der Reihe nach. Ich erzähle es dir gleich. Die Regierung nahm die Sache verflucht ernst.«
»Aber weshalb …«
»Laß mich reden! Drei Transall-Transporter mit ausgesuchten hohen Beamten und Offizieren, Brandspezialisten, Kriminalbeamten und Regierungsvertretern flogen los. Ich mußte mitfliegen. Es war das erste Mal, daß ich nach La Copelina kam.«
Ist das auch wahr? dachte Manuel. Ist das auch wirklich wahr? Du, der Stellvertreter meines Vaters, warst nie in La Copelina? Bei La Copelina lag das Entwicklungszentrum für AP Sieben, davon bin ich überzeugt. Völlig überzeugt. Zerstört wurde es gewiß in trautem Übereinkommen von Amerikanern und Sowjets. Die hatten, was sie wollten. Mein Vater war tot. Nun mußten alle Zeugen und Mitarbeiter, alle Mitwisser verschwinden. Das ganze Werk mußte verschwinden! Keine Hinweise, kein Verrat mehr. Man soll nicht sagen, daß die Herrschaften zimperlich sind …
Unterdessen hatte Cayetano weitergesprochen: »Wir kamen gegen siebzehn Uhr an. Das Gelände brannte immer noch. Du kannst dir nicht vorstellen, bis zu welchem Grad es verwüstet war. Nur die Landepiste hatte nichts abbekommen. Sie liegt zu weit entfernt. Spezialisten löschten die Flammen. Eine Untersuchung war erst am nächsten Morgen möglich. Die Leute in dem zerstörten Werk waren alle tot. Ohne Ausnahme. Verbrannt und verkohlt bis zur Unkenntlichkeit. Man brauchte Tage, um sie zu identifizieren. Napalm! Wir mußten mit Gasmasken arbeiten, dieser Gestank – unerträglich. Und dann noch die Tierkadaver …«
Na also, dachte Manuel mit trauriger Genugtuung.
»Versuchstiere?«
Cayetano verzog das Gesicht.
»Versuchstiere, ja. Pferde, Kühe, Ochsen, Affen, Schweine … verreckt in ihren Ställen und Käfigen. Das ganze Werk ein einziger zusammengeschmolzener Trümmerhaufen …« Ja, dachte Manuel. Napalm. Hitze genug, um auch die letzte Mikrobe, das letzte Gift zu vernichten. Napalm – eine gute Idee. Saubere Arbeit.
»Hör mal«, sagte der schwere Mann. »Ich sehe, du willst mir kein Vertrauen schenken.«
»Wirklich, Cayetano, ich …«
»Sei ruhig. Ich weiß nicht, was du inzwischen in Wien herausgefunden hast. Du sagst es mir nicht. Gut, dann will ich es dir sagen!«
»Sie?«
»Ja.« Cayetano legte eine Faust auf den Tisch. »Ich. Du hast herausgefunden, daß dein Vater mit B-Waffen experimentiert hat. Daß er eine Erfindung mit nach Wien brachte und sie hier den Vertretern anderer Mächte zum Kauf anbot …«
»Woher wissen Sie das?«
»Das weiß ich von den verfluchten Kerlen aus dem Verteidigungsministerium, die mir in den letzten Tagen nicht von der Seite gewichen sind! Und die wieder wissen es aus Wien! Die Botschaft hält sie auf dem laufenden über das, was du hier treibst! Ich kann dich verstehen, Manuel. Es ist schlimm für dich, dir sagen zu müssen, daß dein Vater ein Verbrecher war, ein Schuft, ein Schwein … Das ist auch für mich schlimm. Aber es ist die Wahrheit!«
»Und woher will denn unser Verteidigungsministerium wissen, was mein Vater gemacht hat?« fragte Manuel schnell. Cayetano war jetzt sehr aufgeregt. Vielleicht verriet er etwas.
»Woher?« Der schwere Mann klopfte mit der Faust auf die Tischplatte.
»Dein Vater, die QUIMICA ARANDA, bekam seinerzeit von unserem Verteidigungsministerium den Geheimauftrag, einen möglichst wirkungsvollen B-Kampfstoff zu entwickeln!«
Manuel starrte Cayetano an. Er schluckte schwer und würgte ein paar Worte hervor: »Das … Verteidigungsministerium hat ihm … den Auftrag … gegeben?«
»Ja! Nur er und ich und die Chemiker und Techniker in La Copelina waren informiert. Und alle waren wir auf absolutes Stillschweigen vereidigt worden. Argentinien hat keine Atomwaffen …«
»Cayetano, ich schwöre Ihnen, ich habe bis zu dieser Minute nichts von dem Auftrag geahnt!«
»Das glaube ich! Aber daß dein Vater hier, in Wien, sein eigenes Geschäft mit dem Auftrag machen wollte, das hast du herausbekommen – lüg mich nicht an!«
»Ich lüge Sie nicht an, Cayetano«, sagte Manuel. »Ja, das habe ich herausbekommen …«