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»›Meinen Jungen hat etwas ganz anderes getötet‹, sagte Valerie, ›und zwar ein Mensch. Ein Mensch hat meinen Jungen auf dem Gewissen!‹« Daniel Steinfeld hielt Irene seine Tasse hin, die sie neuerlich mit Tee füllte. »Danke, liebes Kind. Ja, so war das mit Heinz. So erfuhr es Valerie damals, im Dezember 1945, von seinem Freund. Und das sagte sie ihm – mir sagte sie es drei Jahre später, 1948, als ich sie besuchte.«

Steinfelds Worten folgte eine lange Stille.

Endlich sagte Manuel: »Es war also umsonst. Alles, was Valerie Steinfeld getan hatte, um ihren Jungen zu retten.«

»Vollkommen umsonst.« Der alte, kranke Mann nickte. »Aber damit war die Geschichte für Valerie noch nicht zu Ende! O nein! Sie verrannte sich langsam in eine fixe Idee. Sie war nicht mehr von ihr zu befreien. Nicht eine Granate, ein Mensch hatte ihren Buben getötet!«

»Wer, Daniel? Wer?« rief Irene.

»Dieser Professor Friedjung, der Direktor der Chemieschule.«

»Friedjung?« Manuel starrte Steinfeld an.

»Karl Friedjung, ja. Mit dem hatte alles begonnen. Der hatte ihren Buben aus der Schule geworfen und ihn angezeigt. Und damit erreicht, daß Valerie diesen Prozeß, den sie zuerst unter keinen Umständen führen wollte, dann doch führte – und zuletzt gewann!«

»Ich verstehe«, sagte Irene. »In ihrer Verzweiflung dachte sie nun so: Wenn es keinen Friedjung gegeben hätte, dann hätte es auch keinen Prozeß gegeben, dann wäre Heinz nicht an die Front gekommen, dann wäre er vielleicht am Leben geblieben – wie so viele andere Mischlinge auch …«

»Das dachte sie, ja«, sagte Steinfeld. Er schlürfte den heißen Tee.»Ihr Geist hatte sich völlig verdreht. Was einmal richtig gewesen war, war nun falsch. Was einmal die Rettung bedeutet hatte, bedeutete nun den Untergang, das Unglück, das Ende. Und schuld an allem Unglück, allem Elend, an Tod und Verderben war dieser Friedjung für Valerie, dieser Karl Friedjung. An ihn mußte sie denken, immer … immer … Was haben Sie, junger Mann?«

»Aber dieser Friedjung war doch auch tot!« rief Manuel. »Das mußte Frau Steinfeld doch wissen, wenn sie sich so mit ihm beschäftigte!«

»Sie wußte es. Man sagte es ihr. Man zeigte ihr den Totenschein und alle übrigen Dokumente«, antwortete Steinfeld. »Es änderte nichts. Die fixe Idee wuchs und wuchs. Außerdem: Man muß nicht unbedingt mehr leben, um schuld an etwas gewesen zu sein.«

Manuel stand auf. Er rieb seine Stirn.

»Martin Landau war dabei, als dieser Junge die Nachricht überbrachte?«

»Das erzählte ich doch!«

»Und er war auch dabei, als der russische Offizier die Nachricht vom Tod Paul Steinfelds brachte. Er ist außer Valerie der einzige, der die Wahrheit wirklich erfahren hat. Einmal, als ich ihn fragte, ob Frau Steinfeld den Prozeß gewonnen hätte, sagte er: ›Sie hat ihn gewonnen, und sie hat ihn verloren. Wenn Sie alles gehört haben, werden Sie verstehen, was ich meine.‹ Das verstehe ich jetzt auch. Etwas anderes verstehe ich nicht.«

»Was?«

»Frau Steinfeld hat immer neue Versionen über den Tod ihres Mannes und ihres Sohnes verbreitet.« Der alte Mann nickte. »Warum? Warum tat sie das, Herr Steinfeld?«

Der neunundsechzigjährige Jude, Pole, ehemals Wiener, vertrieben aus Warschau, unterwegs nach Israel, antwortete: »Sie können das nur verstehen, wenn Sie sich ganz in Valerie hineindenken. Wahrscheinlich geht das gar nicht. Eine Frau – Irene! – wird es eher können. Sehen Sie: Valerie hatte einen glücklichen Augenblick: Als die Nachricht vom Reichsgericht in Leipzig kam, daß der Prozeß gewonnen sei.«

»Aber noch am gleichen Abend war es mit dem Glück zu Ende. Denn da erklärte Heinz, er würde sich zur Waffen-SS melden«, meinte Manuel.

»Richtig! In diesem Moment muß Valerie einen furchtbaren Schock erlitten haben. So sah das also aus – nach allem, was sie und die anderen getan hatten. Das war der Lohn der Angst, der Dank ihres Sohnes.«

»Es folgte Streit mit Heinz, es folgten Zerwürfnisse …« Irene sah Steinfeld an.

»Eines folgte auf das andere«, sagte dieser. »Der Verzweiflung folgte die Furcht um Heinz. Wochenlang keine Zeile von ihm, Valerie fing an, sich Vorwürfe zu machen. Hätte sie den Prozeß doch nicht geführt! Aber sie mußte ihn führen – wegen Friedjung! Der war an allem schuld. Aber wie schuldig war sie selber? Sie begann, sich anzuklagen, immer heftiger. Die Nachricht vom Tod ihres Mannes kam. Ein neuer Schlag! Paul tot! Und dann kam die Mitteilung vom Tod des Buben. Das war die Klimax! Das ertrug sie nicht mehr. Begreifen Sie das? Sie konnte die Wahrheit nicht ertragen! Die Wahrheit durfte nicht wahr sein. Denn blieb auch Friedjung schuld, so blieb sie schuldig wie er! Das redete sie sich ein, Tag und Nacht. Und sie wollte nicht schuldig sein! Sie ertrug das nicht!«

»Und deshalb begann sie zu lügen«, sagte Irene. »Ungeschickt. Hilflos. Dem erzählte sie dieses, dem andern jenes. Lügen, um selber nicht schuldig zu sein, ja, ich kann das begreifen. Valerie war nicht schuld, wenn ihr Mann bei einem Luftangriff ums Leben kam, wenn er sich von ihr scheiden ließ, wenn er eine andere Frau heiratete. Sie war nicht schuld, wenn ihr Sohn nach Amerika oder nach Kanada auswanderte, wenn er dort einen Autounfall erlitt. Sie war nicht schuld! Sie war nicht schuld! Das hielt sie in Bann. Das ließ sie lügen, immer neue Lügen erfinden. Kannst du das nicht auch verstehen, Manuel?«

»Doch«, sagte er. »Ich glaube.«

»Nur Valerie und Martin wußten die Wahrheit, und Martin hat sie nie verraten!«

»Agnes«, sagte der alte Mann. »Agnes wußte gleichfalls Bescheid. Diese drei Menschen. Und diese drei Menschen hielten zusammen und schwiegen.«

»Vier Menschen«, sagte Manuel. »Auch Sie, Herr Steinfeld.«

»Ich auch, ja … Ich«, sagte Steinfeld langsam, »weiß sogar Bescheid darüber, was Karl Friedjung und Valerie einst miteinander erlebt haben …«

Und Jimmy ging zum Regenbogen
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