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»Ich habe Angst, Martin, ich habe solche Angst …«, flüsterte Valerie nun, am Abend, im Teekammerl der Buchhandlung. »Diese Lippowski ist halb irre vor Haß und Kränkung und Alleinsein … Weiß Gott, was die anrichten wird, wenn sie als Zeugin aussagt! Der Doktor Forster wird sie bestimmt nicht anfordern, aber der Kurator, das Gericht, du sagst es ja selber!«
Mit einem Ruck erhob Landau sich, goß wieder das Glas voll Weinbrandverschnitt, trank und sagte mit fester Stimme: »Mach dich nicht verrückt, Schatz. Soll die Alte doch sagen, es ist alles nicht wahr, sie weiß von nichts! Der Forster wird sie schon in die Zange nehmen. Da ich dauernd bei euch draußen war in dieser Zeit, das muß sie zugeben! Das stimmt! Und Lärm bei Streitereien? Na, dann hat sie eben keinen gehört. Der Forster kann sicherlich auch so gemein sein wie sie! Er kann, zum Beispiel, erwähnen, daß sie mit einem Juden verheiratet war. Ob ihr das so angenehm sein wird?«
»Trink nicht so viel. Du verträgst doch nichts, und wir sind noch nicht fertig. Es ist gar nicht schön, wie das aussieht.«
»Ein Glück, daß ich in der Partei bin«, sagte er grinsend. (Nur Valerie wieder Mut machen!) »Wenn ein Parteimitglied schwört, dann ist das ein ganz anderer Schwur, als wenn ein gewöhnlicher Volksgenosse die Finger hebt.«
»Ich rede nicht von dir. Ich rede von unseren Zeugen! Deine Schwester …«
»Die Tilly wird erklären, sie weiß von überhaupt nichts, hat sie doch selber gesagt! Na schön, wir haben es ja auch nicht an die große Glocke gehängt, unser Verhältnis!«
»Aber eine Zeugin für uns ist sie damit auch nicht. Und bei der Agnes wissen wir noch nicht, was ihr Pfarrer sagen wird.«
»Daß sie lügen darf, natürlich!«
»Du bist ein Optimist, weil du einen sitzen hast! Vielleicht sagt er ihr, Meineid ist in jedem Fall eine Todsünde. Was dann?«
Die Agnes Peintinger hatte ihren Hochwürdigen Herrn, den Pfarrer Ignaz Pankrater, noch nicht aufsuchen können, denn dieser war für fünf Tage verreist.
Martin Landau setzte sich, betont forsch.
»Dann muß es eben ohne Zeugen gehen! Wir können nicht warten, bis wir wissen, was die Agnes tun wird. Am Montag soll das hier beim Anwalt sein. Nimm dich zusammen. Wo sind wir stehengeblieben?«
»… lebten damals …Miete …gewissen Lippowski …wo Martin Landau und ich uns unauffällig …«
»… treffen konnten«, diktierte er. »Na los, schreib!«
Sie schrieb.
Er fuhr fort: »Als ich feststellte, daß ich von Martin Landau ein Kind erwartete, sagte ich es diesem sofort. Er war entschlossen, mit Paul Steinfeld zu reden und ihm die Wahrheit zu erzählen. Punkt. Hm. Er … er …« Landau trank wieder und polterte lauthals: »Himmelarschundzwirn, ist das kompliziert!«
Valerie war wieder in Schwung gekommen, sie sprach, während sie stenographierte: »Er wollte unter allen Umständen erreichen, daß Steinfeld sich scheiden ließ und das Kind als das seine, Landaus, anerkannt wurde. Er liebte mich und wollte mich sofort heiraten, doch ein Anwalt belehrte uns, daß ein geschiedener Ehepartner nach österreichischem Recht nicht die Person heiraten dürfe, mit der er den Ehebruch begangen hatte …«
»Woher weißt du denn das?« Landau horchte auf.
»Das hat mir der Doktor Forster erklärt. Grundsätzlich hätte die Behörde dann doch noch einen Dispens erteilen können, und eine neue Eheschließung wäre möglich gewesen, aber davon, sagt der Doktor Forster, müssen wir ja nichts gewußt haben. Das alles hat er mir durch die Blume erklärt – indirekt natürlich …«
»Natürlich. Prima Anwalt, den Paul uns da empfohlen hat«, sagte Landau, sehr beeindruckt.
»Ich wäre also«, schrieb und sprach Valerie, »schuldhaft geschieden worden und hätte ein uneheliches Kind gehabt, ohne die Möglichkeit, dessen Vater zu heiraten. Vor dieser Situation schrak ich zurück. Mit meinen Eltern war ich inzwischen ganz zerfallen, ich hatte so viel Leid über die beiden alten Leute gebracht …«
»… und mein eigenes Leben zerstört …«, assistierte Landau.
»… zerstört und korrumpiert – Gedankenstrich –, nun sollte nicht auch noch das Kind unter meinen Verfehlungen leiden. Ich wollte an der Seite Paul Steinfelds ausharren und alles ertragen, was mir diese Verbindung an Leid bescherte, so entsetzlich bitter das auch war – Gedankenstrich –, um des Kindes willen … Paul Steinfeld nahm die Nachricht von einer Schwangerschaft verärgert auf, denn er wollte am liebsten kein Kind. Für eine Schwangerschaftsunterbrechung, die er vorschlug …«
»Das ist hervorragend! Echt jüdisch!« kommentierte Landau. (Mut, Mut, Valerie Mut machen!)
»… war es zu spät. Deshalb fand er sich mit den Tatsachen ab, kümmerte sich im Laufe der Jahre aber so wenig wie möglich um meinen Sohn und stand ihm stets ablehnend gegenüber. Dasselbe Gefühl der instinktmäßigen Abneigung brachte mein Sohn, als er älter wurde, in immer stärkerem Maße auch Paul Steinfeld entgegen, während er sich mehr und mehr zu Martin Landau hingezogen fühlte … den ich schon vor der Geburt des Kindes möglichst häufig einlud, um wenigstens so oft es ging in seiner Gesellschaft sein zu können …«
»Paul muß natürlich Verdacht geschöpft haben!«
»Das kommt jetzt … Paul Steinfeld akzeptierte Martin Landau nie ganz. Er war mißtrauisch und äußerte häufig den Verdacht, nicht der Vater von Heinz zu sein. Er machte mir unentwegt Eifersuchtsszenen, auch in Verbindung mit den verschiedensten Männern, die bei uns verkehrten, wobei er ständig auf seine ihm dubios erscheinende Vaterschaft anspielte … In dieser Weise führten wir viele Jahre hindurch eine Ehe, die nur eine Farce einer solchen war – Paul Steinfeld ging seinem Leben nach, ich dem meinen. Gemeinsam mit Martin Landau arbeitete ich an Volkshochschulen …«
»Das haben wir wirklich getan! Valerie, es kann gar nichts schiefgehen!«
»… wo wir Vorträge hielten und Kurse für Kunstinteressierte veranstalteten. So baute ich mir eine eigene Welt auf, in deren Mittelpunkt mein geliebter Junge stand …« Der Bleistift flog über das Papier. »Es war eine Erlösung für mich, als Paul Steinfeld 1938 über Nacht floh, obwohl er mich praktisch mittellos zurückließ … In dieser Situation … erwies sich Martin Landau als treuer Freund … Er bot mir sofort eine Stelle in seiner Buchhandlung an, und er wollte nun, nach dem Umbruch, auch eine Legitimierung unseres Sohnes betreiben, aber ich lehnte ab …«
»Warum?« fragte Landau.
»Die Bedingungen für Heinz waren damals günstig«, sprach und stenographierte Valerie. »Er war Ariern gleichgestellt, und ich hoffte, ihn durchzubringen, ohne die Vergangenheit aufrollen und den schweren Weg dieser Prozeßführung gehen zu müssen. Ich hoffte, den begabten Jungen einer guten Berufsausbildung zuführen und ihn zu einem wertvollen Mitglied der Gemeinschaft machen zu können …« Valerie schrieb immer schneller. »Die Entwicklung verlief jedoch ungünstig und verhinderte meine Pläne. So habe ich mich entschlossen, die schon 1938 von Martin Landau gewünschte Legitimierung meines Sohnes Heinz jetzt zu beantragen …«
Der Bleistift entglitt Valeries Hand. Die Hand fiel herab. Ein Beben ging durch ihren Körper, dann saß sie steif und starr da, ohne sich zu bewegen. Mit blicklosen Augen sah sie die vielen kleinen Schubladen des alten Schreibtisches an.
»Valerie!« Landau trat besorgt neben sie. Er schüttelte leicht ihre Schulter. Er redete hastig auf die Reglose ein: »Nicht, Valerie, nicht … bitte … Das ist doch alles großartig … Paul wäre begeistert … Er hätte es nicht so hingekriegt … Ich auch nicht … Nicht einmal der Doktor Forster … Der wird entzückt sein … Valerie … Valerie, sag etwas, bitte!«
Doch Valerie Steinfeld sagte kein einziges Wort, kein einziges Wort.