16
Bianca Barry trug einen hellen, sportlich geschnittenen Nerz, helle Stiefel und ein Tuch um das Haar. Sie stand am Straßenrand vor dem großen Tor 11, dem Hauptportal des Zentralfriedhofs. Es schneite nicht an diesem Nachmittag, aber die Wolken, die den Himmel bedeckten, waren dunkel, und ein eisiger Ostwind wehte.
»Das ist sie«, sagte Irene. Sie saß neben Manuel, der den blauen Mercedes lenkte, und sie trug gleichfalls Stiefel, ein Kopftuch und ihren Breitschwanzpersianer.
»Pünktlich wie wir«, sagte Manuel. Es war genau 15 Uhr an diesem Donnerstag, dem 23. Januar. Manuel trat auf die Bremse und ließ den Wagen vor der Frau des Malers ausrollen. Sie öffnete schnell den Schlag hinter Irene und glitt in den Fond.
»Guten Tag«, sagte Bianca Barry hastig. »Fahren Sie gleich weiter, bitte.«
»Wohin?«
»Immer geradeaus.« Bianca reichte Irene, die sich halb umgedreht hatte, die Hand. »Es hat Sie gewiß erstaunt, daß ich Sie gerade hier treffen wollte, aber der Zentralfriedhof liegt auf dem Weg …«
»Weg wohin?« fragte Manuel.
»Nach … Ich will Ihnen etwas zeigen … Es ist noch weit dahin. Die Straßenbahn, der Einundsiebziger, hat eine Station weiter Endhaltestelle – bei Tor drei. Dort sind aber kaum Menschen, man fällt mehr auf als beim Hauptportal. Darum bin ich schon hier ausgestiegen. Hier ist immer etwas los.«
»Und Ihr Wagen?« fragte Irene. »Zum Begräbnis sind Sie doch in Ihrem Wagen gekommen?«
»Mit dem ist Roman nach Linz gefahren. Zu dieser Galerieeröffnung. Wir haben nur ein Auto. Damals, als Ihre Tante begraben wurde, war Roman für zwei Tage nach Zürich geflogen. Da konnte ich den Wagen benützen.«
Der Mann neben dem Fahrer des grauen Peugeot, der Manuels Mercedes in großem Abstand folgte, sprach russisch in ein Handmikrophon: »Lesskow … Ich rufe Lesskow … Hier ist Tolstoi …«
»Wir hören euch, Tolstoi«, ertönte eine Stimme aus einem Lautsprecher unter dem Armaturenbrett. Heute hatten die Sowjets die Bewachung Manuels übernommen. »Was ist los?«
»Sie fahren weiter Richtung Flughafen …«
»Ihr folgt ihnen, Tolstoi. Wohin sie auch fahren. Bei dem geringsten Zwischenfall gebt ihr sofort Alarm und greift ein …«
»Verstanden, Lesskow, Ende.«
In Manuels Wagen hatte Bianca Barry eine Zigarette angezündet. Sie rauchte nervös.
»Nun beruhigen Sie sich aber«, sagte Irene. »Ihr Mann ist doch nicht in Wien!«
»Sie wissen nicht, wie eifersüchtig er ist. Vielleicht hat er jemanden beauftragt, mich zu beobachten …«
»Unsinn!«
»Ja, natürlich Unsinn. Ich habe sehr achtgegeben. Niemand ist mir gefolgt. Diese ganze Geschichte hat mich nur so sehr aufgeregt. Und dann kamen auch noch Sie, und ich mußte Ihnen etwas vorlügen. Glauben Sie mir, ich habe den Tag herbeigesehnt, an dem ich Sie wiedersehen konnte, um die Wahrheit zu erzählen über Heinz und mich …«
»Manuel war durch die Mitte des kleinen Ortes Schwechat, der umgeben von Industrieanlagen lag, gefahren und erhöhte nun auf einer breiten, neuen Straße, welche schnurgerade lief, die Geschwindigkeit. Das Gelände war flach. Plötzlich ertönte ein donnerndes Brausen. Manuel zog den Kopf ein und blickte kurz nach oben. Sehr groß, in geringer Höhe, flog eine Maschine über die Straße hinweg, Sekunden vor dem Aufsetzen. »Da drüben liegt der Flughafen«, sagte Bianca. Manuel sah, im Schnee, Hallen, parkende Maschinen und Hangars. Die landende Maschine verschwand hinter einem Schneeberg.
»Immer noch weiter?« fragte Manuel.
»Ja.« Bianca war ruhiger geworden. »Das, was ich Ihnen zeigen will, liegt noch ein ganzes Stück entfernt. Der Ort … Es klingt pathetisch und lächerlich … Für mich ist er unvergeßlich geblieben, dieser Ort! Sie sind die ersten, denen ich erzähle, was dort geschah. Es ist eine Geschichte, die mich und Heinz angeht, nur uns zwei! Nie werde ich sie vergessen. Ihnen will ich sie verraten. Sie haben von dem Prozeß gehört, der damals geführt wurde. Sie sollen wissen, was Heinz und ich in dieser Zeit taten, was … was an jenem Ort geschah … Aber ich muß der Reihe nach erzählen. Das passierte erst im Sommer 1943. Vorher, Ende 1942 und im Winter 1943, zum Jahresanfang, da war noch alles in Ordnung, da war alles noch wunderbar …«