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»Er lebt!« sagte Valerie Steinfeld.

»Er ist tot!« sagte Daniel Steinfeld.

»Er ist nicht tot«, sagte Valerie Steinfeld.

»Herrgott, das redest du dir doch nur ein! Das ist doch nur eine fixe Idee von dir! Nicht die geringsten Beweise hast du dafür, daß Friedjung noch lebt!«

12. Juli 1948.

Der Tag war heiß.

Im Schatten eines alten Baumes saßen Valerie und Daniel Steinfeld auf einer Bank im blühenden Volksgarten, nahe dem Burgtheater. Die Splittergräben, die Bombentrichter hatte man zugeschüttet. Man hatte neues Gras und neue Blumen und Sträucher gepflanzt. Noch in der Zeit des größten Hungers und Elends waren die Parks der Stadt Wien wieder in Ordnung gebracht worden. Erschöpft saßen die Menschen nun auf den Bänken, Kinder liefen lachend umher, spielten Ball, trieben Reifen.

Valerie trug ein altes Kostüm, Daniel Steinfeld einen ehemals eleganten, nun abgenützten Anzug. Er sah kräftig, stark und gesund aus. Valerie wirkte krank. Ihr Schwager hatte sie in der Buchhandlung abgeholt – zu Beginn der Mittagspause.

»Keine Beweise«, sagte Valerie. »Ich habe eine Menge Beweise!«

»Zum Beispiel?«

»Ich habe mit vielen Leuten gesprochen, die damals den Angriff auf die Chemieschule erlebten. Sie alle sagen, die meisten Toten waren so schrecklich entstellt, daß man sie nur an Hand von Papieren identifizieren konnte, die sie bei sich trugen.«

In der Nähe sangen Kinder: »Laßt die Räuber durchmarschieren, durch die goldne Brücken …«

»Aber den Friedjung hat seine Frau identifiziert! Und Schüler! Und Kollegen!«

»Ja, nach seinen Papieren!«

»Woher weißt du das? Hast du mit allen gesprochen? Auch mit seiner Frau?«

»Mit allen. Nur mit der Frau nicht. Die läßt sich nicht sprechen. Ich habe es schon ein paarmal versucht – umsonst.«

»Wieso umsonst?«

»Friedjung muß ihr von mir und Paul und dem Jungen erzählt haben. Sie weigert sich, mich zu empfangen. Sie haßt mich …«

»Valerie!« Steinfeld griff nach einer ihrer Hände. »Du mußt dich zusammennehmen! Diese Frau haßt dich nicht. Welchen Grund hätte sie? Sie will nur nicht an den Tod ihres Mannes erinnert werden. Du, du haßt Friedjung! Du willst, daß er noch lebt!«

»Er lebt auch!« sagte Valerie starrsinnig.

Ein Mann ohne Beine, auf seinem Rumpf sitzend in der Mitte einer kleinen Plattform aus Brettern mit vier dicken Holzrädern, rollte über den Kiesweg an ihnen vorbei. Er trug Schutzleder an den Händen. Schnell und geschickt stieß der Mann sein Gefährt vorwärts.

»Er lebt nicht, er ist tot! Ich habe mir gestern die Mühe gemacht, zum Magistrat zu gehen und mir die Sterbeurkunde anzusehen. Und dann war ich auf diesem Friedhof an der Ettinghausenstraße, und da habe ich Friedjungs Grab besucht. Valerie, bitte!«

»Es sind viele Leute von der Straße in das Institut gekommen bei diesem Angriff. Das haben mir Schüler und Lehrer gesagt. Als die Bomben das Gebäude trafen, waren alle in den finsteren Kellern lange eingeschlossen. Friedjung hat einem Toten, dessen Gesicht zerschlagen war und der ungefähr dieselbe Statur hatte, seine Kleider angezogen und ihm seine Dokumente in die Tasche gesteckt und ist dann, als die Rettungsmannschaften kamen, davongeschlichen, vorsichtig, so, daß es niemand merkte …«

»Das denkst du dir, weil du willst, daß es so war!«

»Es kann so gewesen sein. Ganz leicht kann es so gewesen sein, Daniel!« Jetzt sangen die Kinder: »Ringel, ringel, reiher, sind wir unser dreier …«

Valerie sagte: »Er hatte eine Freundin, der Friedjung. Das weiß ich bestimmt. Auch dieser Sache bin ich nachgegangen. In der Siebensterngasse hat sie gewohnt. Ein Baby hat sie gehabt. Ein uneheliches Kind. Die Hausmeisterin beschwört es. Spiegel hat die Frau geheißen. Höchstens siebenundzwanzig Jahre alt war sie. Friedjung hat sie ständig besucht. Er war ihr Geliebter. Und der Vater von ihrem Kind.«

»Sagt die Hausmeisterin.«

»Ja! Ja!«

»Woher weiß sie, daß es Friedjung war, der die Frau besuchte?«

»Ich habe ihn beschrieben. Sie hat ihn nach der Beschreibung erkannt.«

»Umgekehrt wäre das interessanter gewesen«, sagte Steinfeld.

»Eine Woche nach dem Angriff auf die Chemieschule ist die Spiegel mit ihrem kleinen Kind verschwunden! Nachts! Ein Auto hat sie abgeholt. Alles hat sie zurückgelassen, nur einen Koffer mitgenommen! Die Hausmeisterin hat es gesehen. Ein großer Wagen war das. Mit Chauffeur. Und hinten im Auto saß er, Friedjung!«

»Das hat die Hausmeisterin gesehen? Mitten in der Nacht? Bei völliger Verdunkelung?«

»Etwas Licht war da … im Wagen!« Valerie ließ sich nicht beirren.

»Friedjung hat seine Geliebte abgeholt und ist untergetaucht.«

»Wohin?«

»Irgendwohin. Nach Deutschland. Ins Ausland. Ein Bonze! Diesen Leuten war alles möglich damals, knapp vor dem Zusammenbruch. Er lebt, Daniel! Friedjung lebt! Und ich werde ihn finden …« Er schwieg beklommen. Das alles hat keinen Sinn, dachte er. Diese Frau ist durch ihren Kummer ganz und gar verwirrt.

»Und wenn ich ihn gefunden habe …« Valerie sprach den Satz nicht zu Ende. Ihre weißen Hände ballten sich zu Fäusten. Und tausend Blumen blühten ringsum und dufteten und leuchteten in allen Farben, und die Kinder sangen noch immer.

Und Jimmy ging zum Regenbogen
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