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»Und nun? Es stimmt, was Nora Hill erzählt! Und es stimmt, was dieser Albaner erzählt! Mein Vater hat mit Amerikanern und Russen ein Geschäft gemacht. Ein furchtbares Geschäft. Und ich weiß nicht, welches …« Manuel Aranda hatte sich auf den Rand des provisorischen Bettes sinken lassen. Er hielt den Kopf in beide Hände gestützt. »Mein Vater – ein Verbrecher!«
»Nicht«, sagte Irene, die neben ihm saß. »Wir dürfen jetzt nicht die Nerven verlieren. Das ist doch alles Unsinn.«
»Nein, das ist es nicht! Nicht mehr jetzt. Jetzt wissen wir schon zuviel, um noch an die Unschuld meines Vaters zu glauben.«
»Und an Valeries Unschuld«, sagte Irene leise.
Die Nachtglocke schrillte.
Irene fuhr zusammen.
»Nein! Nicht schon wieder! Nicht … nicht …«
»Ich sehe nach.« Manuel stand auf und ging geräuschlos, auf Zehenspitzen, in den Verkaufsraum. Er lehnte sich an die Wand neben der Tür. Er hatte Irenes Pistole mitgenommen. Nun schob er den Sicherungshebel herunter und trat einen Schritt seitlich vor. Draußen in der Kälte stand, außer Atem, keuchend und dick vermummt, ein vielleicht zwölfjähriger Junge. Er redete ungewöhnlich schnell in die Sprechanlage: »Hier, bitte, das Rezept.« Er schob es durch den Metallschlitz unter dem Glockenknopf. »Der Herr Doktor hat gesagt, die Mutter soll es sofort nehmen. Sie hat solche Bauchschmerzen. Sie schreit! Bitte, machen Sie schnell, Herr Apotheker. Sie hat so arge Schmerzen wie noch nie. Es ist schrecklich …« Manuel sah, daß dem kleinen Jungen dicke Tränen über die Wangen liefen.
Irene war herangekommen. Sie knipste einen Schalter herunter. Neonlichtröhren flammten im Verkaufsraum auf.
»Spasmocibalgin«, las Irene von dem Rezept ab, das Manuel ihr reichte. In die Sprechanlage sagte sie: »Warte einen Moment.« Sie eilte zu den Schubladen.
Manuel ging in das Büro zurück. Er fühlte sich taumelig vor Benommenheit, von einem Moment zum andern war das nun schon vertraute Gefühl wieder da. Er mußte sich an der Wand entlangtasten, sonst wäre er gestürzt. Schwer ließ er sich auf Irenes Bett fallen. Diese kam wenige Minuten später in das Büro zurück. Manuel Aranda schlief bereits so tief, daß er nicht erwachte, als sie ihn laut ansprach, als sie ihm Jacke und Schuhe auszog, den Hemdkragen öffnete, die Krawatte lockerte und ihn ganz auf das Bett legte. Er murmelte im Schlaf, aber sie konnte nichts verstehen. Irene deckte Manuel zu und trat hinter den Schreibtisch. Sie glitt auf den Sessel und drückte den Arm der Lampe herab, bis er fast die Tischplatte berührte und der kleine Raum in Dunkelheit versank.
Laut fühlte Irene ihr Herz pochen. Plötzlich packte sie wilde Angst. In Panik rang sie nach Atem. Ihre Gedanken überstürzten sich. Valerie und Manuels Vater – tot beide, Verbrecher beide. Die Aufregung der Mutter. Das Geheimnis. Der Albaner. Der Nachtmahr, dieser irrsinnige Nachtmahr, in den sie und Manuel geraten waren. Was wird weiter geschehen? Wie wird das alles enden?
Die junge Frau preßte beide Fäuste gegen die Schläfen.
Angst! Angst!
Noch nie im Leben hatte sie solche Angst empfunden wie nun. Sie wagte nicht, sich zu rühren.
Die Angst! Die Angst!
Irene ließ die Fäuste sinken, öffnete sie, lehnte sich zurück und starrte in die Dunkelheit des Büros. So plötzlich, wie sie gekommen war, verschwand die Angst. Irene saß erschöpft und ruhig hinter dem Schreibtisch. Sie war sehr glücklich darüber, Manuels Atem zu hören.