38

Sie rüttelte an der Klinke der verschlossenen Tür. Sie begriff das nicht. Wieso war hier abgesperrt? Die Totenstille im Laden machte sie plötzlich furchtbar nervös. Sie fühlte Angst in sich emporschießen. Was war geschehen? Vorsichtig blickte Nora über den grünen Vorhang an der Glasscheibe der Tür hinweg nach draußen. Es war kein halbes Dutzend Menschen in der Seilergasse zu sehen.

Aber ich kann die Tür nicht einfach einschlagen, dachte Nora. Ich muß durch den zweiten Ausgang hinaus. Jenen, durch welchen der Kerl kam, den ich niederschlug. Es muß einen geben, zum Hof wahrscheinlich, hinter den Magazinen. Der Kerl ist bestimmt noch nicht sehr aktionsfähig. Natürlich kann ein Kollege von ihm bei dem zweiten Ausgang warten. Schlimm. Aber ich muß es einfach riskieren. Raus! Nur raus hier!

Nora Hill rannte zu dem Gang in der Bücherwand wieder zurück. Im ersten Magazin brannte nun elektrisches Licht. Valerie Steinfeld kniete neben dem Mann, ihn halb verdeckend. Nora hielt die Pistole in der Hand – jetzt richtig. Ich komme hier weg, dachte sie. Ich komme hier weg! Wenn der Kerl am Ende noch ohnmächtig ist, geht das ganz schnell. Sie machte drei Schritte vorwärts. Martin Landau war nicht ohnmächtig. Martin Landau.

An ihn hatte Nora in den letzten Sekunden überhaupt nicht mehr gedacht. Da lag er auf dem staubigen Boden, die Augen geöffnet, leise stöhnend, ein Taschentuch an die rechte Schläfe gepreßt. Das Tuch war bereits durchtränkt, Blut tropfte auf die Erde, beschmutzte seinen Anzug. Nora Hill erschrak nicht, als sie sah, was sie angerichtet hatte, Landau tat ihr auch nicht leid. Sie wurde nur wütend.

»Was führen Sie hier für Idiotenspiele auf?« zischte sie ihn an.

Er hob den Blick.

»Sie … Sie …« begann Martin Landau.

»Haben Sie Verbandzeug?« fragte Nora, an Valerie gewandt.

»Im Teekammerl …«

»Holen Sie, was da ist.«

»Blut …« ächzte Landau. Er würgte. »Ich kann kein Blut sehen …«

»Wenn ich Ihren Schädel verbunden habe, werden Sie kein Blut mehr sehen. Es tut mir leid«, fügte sie freundlicher hinzu. »Aber weshalb schleichen Sie da herum? Wie sind Sie überhaupt auf diese Seite der Kammer gekommen?«

»Gestapo …«

»Was?«

Er schluckte Blut, das ihm in den Mund lief, und sah Nora an.

»Was, Gestapo? Reden Sie!«

»Ein Mann … Muß von der Gestapo sein … Ich habe immer wieder durch die Tür hinausgesehen, während Sie hier waren … Er stand da, die ganze Zeit … Und er ließ das Geschäft nicht aus den Augen …«

»Da steht kein Mensch«, sagte Nora.

»Es stand einer da.«

»Wo?«

»Drüben, schräg gegenüber, Ecke Neuer Markt …«

»Wie sah er aus?«

»Groß und schlank … blauer Mantel und blauer Homburg …«

»Ein Gestapomann mit einem Homburg? Haben Sie schon mal einen Gestapomann gesehen?«

Nora sprach noch ironisch. Aber da war plötzlich der Stachel des Zweifels in ihrem Herzen. Und wenn dieser Feigling doch nicht nur phantasiert? Und wenn ich wirklich beobachtet werde? Blauer Homburg … vielleicht ist der Mann tatsächlich hinter mir her? Und bei der Gestapo? Blauer Homburg – dann trägt er eben gerade so einen Hut! Nicht superschlau werden. Vielleicht ist das auch jemand ganz anderer. Ich bin in Deutschland. Da bespitzelt jeder jeden. Wer weiß, wer das war? Wer weiß, wer das ist? Jetzt habe ich wieder Angst. Große Angst. Vielleicht kann dieser Landau überhaupt nichts dafür. Vielleicht sagt er die reine Wahrheit.

»Es tut mir leid«, murmelte Nora Hill eindringlich. »Verzeihen Sie mir. Bitte. Es tut mir wirklich leid.«

»Ich wollte Sie immerhin retten … Das ist der Dank … Ich habe ein schwaches Herz … deshalb wurde ich auch nicht eingezogen …«

Valerie kam mit einer blauen Blechschachtel, die ein rotes Kreuz in einem weißen Kreis trug. Nora öffnete den Deckel.

»Gut«, sagte sie. »Jetzt noch Wasser. Kaltes. Um das Blut wegzuwaschen.« Valerie eilte in das Teekammerl zurück. Nora stand auf. »Ich bin sofort da!«

Sie rannte in den Laden und zur Eingangstür. Die Augen unmittelbar über dem grünen Vorhangsaum, sah sie noch einmal aufmerksam die Seilergasse entlang, in jedes Haustor, das sie erblicken konnte, bis hinauf zur Ecke des Neuen Marktes. Sie lief zurück zu dem leise jammernden Landau, bei dem Valerie kniete, neben einer Schüssel mit Wasser.

»Richten Sie sich auf«, sagte Nora. Er folgte stöhnend. »Da ist kein Mann mit Homburg und blauem Mantel.«

»Doch.«

»Nein, Herrgott!« Die Angst! Die Angst ließ sie grob werden.

»Dann versteckt er sich. Ich habe es nicht mehr ausgehalten, dieses Herstarren von ihm. Darum habe ich die Tafel ›Komme gleich‹ hinter das Türglas gehängt und bin raus und habe hinter mir zugesperrt und …«

»Nehmen Sie das Taschentuch weg!«

Er nahm es weg. Er hatte nur eine Platzwunde, aber eine ziemlich große. Nora begann, ordentlich Jod daraufzupinseln. Er jaulte laut auf vor Schmerz.

»Reißen Sie sich zusammen!«

»Und dann … Was hast du dann gemacht, Martin?« fragte Valerie, bleich und leise.

»Ich bin die Seilergasse hinuntergegangen … au!«

»Stellen Sie sich nicht so an! Und?«

»Und der Mann mit dem Homburg blieb stehen und schaute mir nach … Ich ging um den Block und kam von der Spiegelgasse wieder zurück, durch den Hof und den Magazineingang …«

»Warum hast du dich bloß so angeschlichen? Warum hast du nicht gehustet oder dich sonst bemerkbar gemacht?« fragte Valerie.

Nora hatte ein schlechtes Gewissen. Sie fühlte sich elend. Was habe ich da angerichtet, dachte sie beschämt. Und sofort: Wie komme ich jetzt weg? Wenn es stimmt, was Landau sagt, ist der Mann noch da, wer immer das ist. Wo? Er ist beim Eingang stehengeblieben, sagt Landau. Aber da sehe ich ihn nicht. Das beweist nichts. Er kann sehr leicht trotzdem da stehen, auf der anderen Straßenseite zum Beispiel. Oder der Mann ist Landau nachgegangen. In diesem Fall steht er beim Hintereingang oder in der Spiegelgasse.

Nora hörte voll Scham und Furcht, was Landau stammelte: »Ich war ganz außer mir vor Angst … Immerhin … Ich wußte nicht mehr, was ich tat … Ich dachte, wenn ihr mich plötzlich hört, dann fängst du an zu schreien, und der Mann draußen …«

»Sitzen Sie aufrecht.« Nora begann, Landau einen Stirnverband anzulegen. Er stöhnte laut.

»Weg! Weg! Weg!« schrie er plötzlich und trommelte mit beiden Fäusten auf den Boden.

»Martin … Martin, bitte … wir waren noch nicht fertig … Fräulein Hill muß mir noch etwas sagen, etwas ganz Wichtiges …«

»Aber nicht hier!«

»Eine Nachricht von Paul!«

»Dann geh mit ihr, verflucht!«

»Wohin? Wohin denn, Martin? Jetzt am hellen Tag!«

»Das ist mir egal!« Er schleuderte das blutige Handtuch fort, erhob sich torkelnd, taumelte in das Teekammerl hinein und ließ sich auf das Ledersofa fallen, dessen Spiralen krachten. »Aaah! Mein Kopf! Also was ist – gehen Sie endlich?« Er griff nach dem altmodischen Telefonhörer.

»Martin!« rief Valerie. »Du wirst doch nicht …«

»Und ob ich werde! Sofort werde ich! Ich lasse mir immerhin mein Leben nicht versauen wegen so einer!«

Nora und Valerie sahen sich an.

»Das hat keinen Sinn«, sagte Nora.

»Aber Sie können nicht … Sie müssen mir doch noch …« Valerie klammerte sich an sie. »Ich weiß etwas!« Valerie holte Atem. »Die Stephanskirche! Keine zwanzig Minuten von hier!«

»Stephanskirche, ja«, sagte Landau. Er nahm die Hand vom Hörer. »Geht da hin. Da wird jetzt kaum ein Mensch sein. Dunkel ist es auch. Über den Hof und die Spiegelgasse. Wenn ihr fort seid, gehe ich auch noch einmal herum und sperre vorn wieder auf. Und wenn der Mann mit dem Homburg kommt und nach euch fragt …«

»Der kommt nicht, seien Sie ruhig, Herr Landau.«

Nora war jetzt fest entschlossen, die beiden ihrem Schicksal zu überlassen. Sie hatte genug. Mehr als genug. Laß mich hier heil rauskommen, lieber Gott, dachte sie, verzeih, daß ich immer nur in solchen Lagen an dich denke, und hilf mir.

»Und wenn er immerhin doch kommt, dann erzähle ich ihm, daß ich gestürzt bin … und die Hausmeisterin von der Spiegelgasse mich verbunden hat … Nein, das geht doch alles nicht!« Landau war schon wieder völlig verzweifelt. »Und das Blut hier? Und wo bist du, Valerie? Und wo ist das Fräulein, wenn der Mann es kommen sah?«

Valerie sagte: »Leg dich hin, Martin. Mach vorläufig überhaupt nicht auf. Warte, bis ich zurück bin. Es wird nicht lange dauern. Dann können wir immer noch sagen, daß wir beide weg waren und daß du gestürzt bist und ich dich verbunden habe.«

»Ich hasse Sie«, flüsterte Martin Landau, die milden grauen Augen auf Nora Hill gerichtet. »Ich hasse Sie …«

Valerie sagte hastig: »Gehen Sie schon voraus. Hier … hier ist eine Taschenlampe, Sie wissen ja nicht, wo die Schalter sind! Durch die Magazine ganz nach hinten, es gibt nur einen Weg. Sie kennen sich aus in der Spiegelgasse?«

»Ja.«

»Setzen Sie sich in der Kirche irgendwohin, wo es sehr dunkel ist«, sagte Valerie beschwörend.

»Ja.«

»Ich komme in ein paar Minuten nach.«

»Ja«, sagte Nora Hill und ging. Vier große Gewölbe mußte sie durchqueren, die Pistole in der rechten, die Taschenlampe in der linken Hand. Die Krokodilledertasche hing am linken Unterarm. Nach Moder roch es, nach altem Leder. Und Bücher türmten sich zu Bergen. Nora leuchtete hin und her, sie fand den Weg nur mir Mühe. Dann, endlich, erreichte sie eine Eisentür. Sie knipste die Lampe aus und legte sie auf einen Tisch. Sie schob den Sicherungshebel der Pistole zurück. Jetzt hielt kalte Furcht sie gepackt, aber jetzt war sie auch völlig skrupellos. Lebend kriegen die mich nicht, dachte sie. Ich weiß, was mich erwartet, wenn die mich kriegen. Lieber Gott, bitte! Schweiß stand wieder auf ihrer Stirn. Sie drückte die Klinke der Eisentür nieder, schleuderte sie auf und preßte sich mit dem Rücken an die Mauer neben dem eisernen Türrahmen. Sie wandte den Kopf seitlich, sah ins Freie. Ein alter Hof voller Gerümpel. In der Mitte ein kahler Kastanienbaum. Kein Mensch. Stille.

Absolute Stille. Nora trat einen Schritt vor. Noch einen. Noch einen. Nun stand sie in der Türöffnung und überblickte den ganzen Hof. Er war verlassen.

Aber vielleicht verbirgt sich jemand hinter den Abfalltonnen, hinter dem Gerümpel, dachte sie. Egal. Ich muß weg. Weg hier!

Sie trat aus der Tür, die Pistole immer noch in der Hand, halb versteckt unter der Tasche. Der zweite Schritt. Der dritte. Nichts. Ihre Knie waren weich wie Gelee, als sie den Hof überquerte. Sie erwartete jede Sekunde, angerufen zu werden. Dann mußte sie herumwirbeln und – nein, es war besser, dann zuerst zu tun, was der Mann forderte … Unsinn! Die Hände hoch, würde er fordern! Weg mit der Pistole! Fallen lassen! Nein, sie mußte sofort schießen. Und dann rennen, rennen …

Schritt. Schritt. Noch ein Schritt.

Nichts.

Als Nora die Hauseinfahrt erreichte, die zur Spiegelgasse führte, fühlte sie, daß ihr Rücken naß war von Schweiß. Niemand im Hof. Und in der Spiegelgasse? Sie trat schnell aus der Einfahrt. Nun war sie schon sicherer. Blick nach rechts, Blick nach links. Kein blauer Homburg, kein blauer Mantel. Wenige Passanten. Niemand kümmerte sich um sie.

Ich wußte es ja, dachte Nora und ließ die Pistole in die Tasche gleiten, Gespenster sieht dieser Landau, Gespenster! Nichts wie zu Carl Flemming jetzt. Zu Flemming und die ganze Geschichte vergessen. Ich bin doch nicht verrückt! Mein Leben riskieren für andere Menschen! Dieses Pärchen ist unzurechnungsfähig, wenigstens der Mann. Und die Frau – was geht sie mich an, was geht mich ihr Junge an?

Nora Hill begann mit schnellen, energischen Schritten die Spiegelgasse hinunterzugehen.

Ich habe die Schnauze voll, dachte sie. Auch Jack muß einsehen, daß ich da nichts mehr tun konnte. Schließlich liebt er mich und würde mich ungern verlieren. In die Stephanskirche – auch noch in den Dom! Ich gehe nicht in den Dom, Frau Steinfeld. Ich denke nicht daran. Nicht ums Verrecken will ich jetzt auch noch eine Sekunde mit dieser Sache zu tun haben. Stephanskirche – Sie werden mich da vergebens suchen, Frau Steinfeld. Tut mir leid. Tut mir furchtbar leid. Gehen Sie zum Teufel, Frau Steinfeld!

Und Jimmy ging zum Regenbogen
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