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… und der Himmel wurde langsam, ganz langsam, blaßblau, rosa, dunkelrot im Westen. Schwarz, als Silhouetten, standen die Wipfel der hohen, alten Bäume vor den Fenstern von Noras Wohnzimmer. Die Flügel waren weit geöffnet. Nach der Hitze des Tages kam kühle Luft herein. Im Park sang eine Nachtigall.
Schweigend hatte Flemming Noras Worten über die unglückliche Wendung des Prozesses gelauscht. Er rauchte Pfeife. Lange saß er nachdenklich da, dann trat er an ein Fenster und blickte in die Dämmerung hinaus. Nora wartete geduldig.
Schließlich drehte der große Mann sich um.
»Ich sehe nur einen Weg«, sagte er, »der vielleicht – vielleicht – Erfolg haben könnte.«
»Ja?« Solange Nora Flemming kannte, empfand sie Haß und Bewunderung zugleich für diesen Mann.
»Kein leichter Weg. Auch kein sicherer. Man braucht gute Nerven, um ihn zu gehen. Die Nerven von Frau Steinfeld sind schon reichlich strapaziert, wie?«
»Reichlich. Aber um den Jungen zu retten, hält sie jede Belastung aus! Sie will nur eines: den Jungen durchbringen. Nun sag mir, was du dir überlegt hast. Woran denkst du?«
»An einen Toten«, antwortete Flemming.
»Woran?«
»Der Vater muß tot sein.«
»Ich verstehe nicht …«
»Der angebliche Vater dieses Jungen«, sagte er leise und geduldig. Süß sang eine Nachtigall im Park. »Frau Steinfeld wird hoffentlich einen Mann gekannt haben – gut gekannt, etwa wie Landau –, der schon gestorben ist. Einen Arier. Es sterben viele Leute jetzt, nicht wahr? An der Front zum Beispiel. Obwohl es andererseits vielleicht besser wäre, wenn dieser Mann schon länger nicht mehr lebte. Aber die Zeugen müßten ihn noch alle gekannt haben – oder andere Zeugen jedenfalls … ich meine: Leute, die bereit sind, vor Gericht so auszusagen wie die ersten Zeugen … Dieselben Zeugen wären die besten, versteht sich …« Er sah den Rauchwolken nach. Agenten brachten ihm aus dem neutralen Ausland englischen Pfeifentabak.
»Ein toter Vater«, sagte Nora atemlos. »Du bist großartig. Das ist die Lösung! Einen toten Mann kann man nicht mehr anthropologisch untersuchen! Von einem toten Mann kann man keine Blutgruppenuntersuchung mehr machen!«
»Ich weiß nicht, ob das Gericht ebenso begeistert sein wird wie du.«
»Ich will Frau Steinfeld sofort anrufen! Morgen gehe ich zu ihr in die Buchhandlung!«
»Ich weiß nicht einmal, ob Frau Steinfeld so begeistert sein wird, Liebling«, sagte Flemming. »Sie und ihre Freunde und Bekannten. Ob die mitmachen. Ob es überhaupt jemanden gibt, der in Frage kommt, einen passenden Toten. Und was Herr Landau sagt …«
»Den wird sie herumkriegen!« Nora suchte schon in einem Telefonbuch Valeries Anschlußnummer in der Gentzgasse. »Diese Frau kriegt alle noch einmal herum! Da ist es! B 32 4 56.« Sie begann zu wählen …