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Der zweiten Theorie zufolge war die Krankheit ein Fluch, der sich mit dem Blöken eines ungerecht behandelten Ziegenbocks über den Herrscher legte. Es wird erzählt, ein paar Älteste hätten sich, beunruhigt vom Anblick der Blutströme, die das Land überfluteten, dazu entschlossen, dieses Übel wie die Epidemien zu behandeln, die in alten Zeiten das Überleben der Gemeinschaft bedrohten: Doch anstatt das Übel im Bauch eines Tieres zu begraben, indem sie ihm Fliegen – das Symbol für die Epidemie – in den Anus stopften, wollten sie einem Ziegenbock die Haare des Herrschers, die für das Böse standen, durch das Maul ins Innere pflanzen. Anschließend sollte dieser den Herrscher verkörpernde Sündenbock geächtet und aus allen Gegenden des Landes vertrieben werden, in denen sein Meckern seine unheilvolle Anwesenheit verkündete.
Unter Anleitung eines Medizinmanns mischten sie die Haare, die sie sich heimlich beim Barbier des Herrschers besorgt hatten, mit Gras, Salz und magischen Tinkturen und flößten sie dem Ziegenbock ein. Mit Nadel und Faden begann der Medizinmann dann, die sieben Körperöffnungen des Tieres zu verschließen, wobei er mit dem Anus anfing. Doch der Ziegenbock wehrte sich, stieß einen markerschütternden Schrei aus und flüchtete, noch bevor ihm der Medizinmann das Maul zunähen konnte. Man berichtet, er blökte seinen Kummer ins ganze Land hinaus, bis sein Schrei auch den Herrscher erreichte. Als dieser von dem Fluch erfuhr, den er für einen Aufruf zum Putsch hielt, schickte er Soldaten los, die den Ziegenbock und alle, die in diese Angelegenheit verwickelt waren, zur Strecke bringen sollten. Es geht das Gerücht um, der Ziegenbock, der Barbier, der Medizinmann, die Ältesten und sogar die Soldaten seien den Krokodilen im Red River zum Fraß vorgeworfen worden, um ewiges Schweigen über den Fluch sicherzustellen. Zur Erinnerung an diesen Tag seiner Errettung ließ der Herrscher den Red River auf den Burĩ-Scheinen abbilden – neben seinem eigenen Konterfei das einzige Bild, das je auf Banknoten der aburĩrischen Währung zu Ehren gelangte.
Allerdings beunruhigte ihn noch immer der Gedanke, dass der Ziegenbock einen Bart hatte. Deshalb konsultierte er heimlich ein Orakel in einem Nachbarland, das ihm versicherte, nur ein bärtiges Geisterwesen könne seine Herrschaft ernsthaft bedrohen. Obwohl er eigentlich überzeugt war, kein Mensch könne ihn je stürzen und Geisterwesen könnten sich, weil sie keine körperliche Form besaßen, gar keine Bärte wachsen lassen, reagierte er von nun an empfindlich auf Bärte. Er erließ ein Dekret, das unter der Bezeichnung „Das Bartgesetz“ in die Geschichte einging und besagte, dass alle Ziegen und Menschen sich die Bärte zu stutzen hätten.
Einige bezweifeln diese Geschichte über den bärtigen Ziegenbock und behaupten sogar, das Bartgesetz beziehe sich lediglich auf Soldaten, Polizisten, Verwaltungsangestellte und Politiker, und die Hirten kürzten ihren Ziegenböcken die Bärte aus eigenem Antrieb, weil das Stutzen der Ziegenbärte bei den aburĩrischen Hirten damals sehr in Mode war.
Die ewigen Zweifler fragten sich: Was hatte das Blöken eines Ziegenbocks, dem Anus, Nase und Ohren zugenäht worden waren, mit der seltsamen Krankheit des Herrschers zu tun?