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Nyawĩra sollte sich an diesen Dienstagmorgen mit Schaudern erinnern. Der Montag und der Freitag davor waren zu Ehren der Einweihung des Bauplatzes am Samstag zu staatlichen Feiertagen erklärt worden. Der Dienstag war ihr erster Arbeitstag nach der Schmach von Eldares. Wenn sie später die Ereignisse dieses verhängnisvollen Morgens beschrieb, dann sprach sie immer davon, wie sie zur gewohnten Zeit mit einem freudigen Gefühl aufgewacht war, schnell geduscht hatte und zur Bushaltestelle gegangen war. Der Bus nach Santamaria war pünktlich gewesen. Im Bus war Nyawĩra ganz bei sich gewesen – froh darüber, eine Frau zu sein, war ihr nach Singen und Feiern zumute. Der siegreiche Auftritt am Bauplatz war noch frisch in ihrem Kopf. Natürlich würden die Sicherheitskräfte nach den Mitgliedern der Bewegung suchen, aber sie war nicht übermäßig beunruhigt wegen ihrer eigenen Sicherheit. Niemand würde sie mit dem Auftritt der Frauen in Verbindung bringen. Politik war in Aburĩria ausschließlich Männersache; und Männer würden niemals glauben, dass Frauen in der Lage waren, das Geschehene zu planen und auszuführen. Seit sie für Tajirika arbeitete, hatte sie ihre Spuren sorgfätig verwischt und die tadellose Sekretärin gespielt – ein bisschen eingebildet vielleicht, aber das hatte ihr Tajirikas Respekt und den seiner Freunde eingetragen, die ihre lüsternen Gedanken für sich behielten. Wie immer stieg sie ein paar Haltestellen hinter dem Markt von Santamaria aus. Sie überquerte die Ruler’s Avenue und den Parrot’s Way und ging die Main Street hinunter in Richtung der Büros von Eldares Modern Construction and Real Estate. Sie hatte es eilig, ins Büro zu kommen und zu hören, was Vinjinia an Klatsch zu berichten hatte. Vinjinia war am Samstag nicht am Schauplatz gewesen, hatte aber bestimmt das eine oder andere von Tajirika aufgeschnappt.
Nyawĩra wusste, dass Tajirika zur Kundgebung gegangen war, denn einige Tage vor der Einweihung war er, Vinjinia zufolge, plötzlich von seiner sogenannten Krankheit genesen. Die Warteschlangen hätten ihren Zweck erfüllt, und er schwor, keine Krankheit, weder eine richtige noch eine vorgetäuschte, könnte ihn, den Vorsitzenden von Marching to Heaven, davon abhalten, bei diesem historischen Ereignis dabei zu sein.
Sie wollte auf einen Kaffee ins Mars Café, bevor sie ins Büro ging. In ihrer glücklichen Stimmung dachte Nyawĩra nicht daran, dass sie Kaniũrũ begegnen könnte. Bei dem Gedanken an das Aroma eines frischen, heißen Kaffees war ihr vielmehr Kamĩtĩ in den Sinn gekommen, der allein im Wald hauste, aber sie schob den Gedanken fort. Kamĩtĩ hatte sich aus freien Stücken dazu entschlossen, und wenn er glücklich damit war, wer war sie, ihm zu sagen, dass er sich an einem siegreichen Dienstagmorgen im Mars Café einen guten Kaffee entgehen ließ? Sie beneidete ihn nicht, und die klirrend kalte Morgenluft in den Bergen vermisste sie noch weniger.
Sie war nur noch wenige Blöcke vom Mars Café entfernt, als sie spürte, wie sie jemand an der rechten Schulter berührte. Sie beachtete die Berührung nicht, nahm beiläufig ihre Handtasche über die andere Schulter und ging weiter. Als es wieder geschah, drehte sie sich abrupt um. Es war A.G. Nyawĩra erschrak kaum sichtbar. Sie war ihm nie bei Tageslicht an einem anderen Ort begegnet als bei sich zu Hause, seit jenem Morgen nicht mehr, als er gekommen war, um ihr von seiner Beförderung zu erzählen. Was tat er in Zivilkleidung so früh morgens in Santamaria? Sie bemühte sich, ihre Überraschung zu verbergen, und tat, als wüsste sie nicht, wer er war.
Aber A.G. murmelte bereits seine Dankbarkeit heraus. Worüber sprach der Mann eigentlich?, fragte sie sich, hatte aber keine Gelegenheit zu Wort zu kommen.
„Ich habe Sie von Weitem erkannt, wollte aber ganz sichergehen“, sprudelte A.G. hervor und senkte die Stimme, als wollte er verhindern, dass jemand zuhörte. „Ich würde Sie sogar erkennen, wenn Sie sich in einen Vogel oder eine Schildkröte verwandelten. Ehrlich! Haki ya Mungu. Und glauben Sie nicht, ich wüsste nicht, dass Sie sich in alles Mögliche verwandeln können. Wo haben Sie gesteckt? Ich habe einige Freunde zu Ihnen geschickt. Sie fanden den Schrein geschlossen und dazu die Nachricht, dass Sie fortgegangen sind …“
Jetzt begriff Nyawĩra, warum er ihr so überschwänglich dankte, und konnte nur mit Mühe ein Lachen unterdrücken. Seit der Flucht vom Paradise hielt A.G. Nyawĩra und Kamĩtĩ für die Manifestation ein und desselben Wesens: des Herrn der Krähen. Nyawĩra versuchte nicht, ihm das auszureden. Sie war überzeugt, dass A.G. ihr sowieso nicht glauben würde. Vor allem wollte sie die Unterhaltung nicht unnötig in die Länge ziehen. Er hielt sie von ihrem Kaffee im Mars Café und von ihrer Arbeit ab. Um ihn loszuwerden, würde es einfacher sein, wenn sie mitspielte. Also deutete sie ein Nicken an und nahm die Rolle des Herrn der Krähen an:
„Wage es ja nicht, irgendjemandem zu verraten, dass du mich hier auf der Straße gesehen hast. Wenn du …“, sagte sie und machte eine Pause, als wäre es zu schrecklich, auch nur über die Folgen nachzudenken. „Ich wünsche nicht, dass jemand erfährt, wer ich bin“, fügte sie mit tieferer Stimme hinzu.
„Oh, vertrauen Sie mir ruhig, Sir Madam Herr der Krähen. Ihr Wunsch ist mir Befehl. Ehrlich! Haki ya Mungu. Wie könnte ich jemals vergessen, was Sie für mich getan haben? Waren Sie etwa auf Safari?“
Nyawĩra bestätigte, dass sie fort gewesen war. Sie habe neben Kräutern auch Froschschenkel und Eidechsenschwänze gesammelt, Stachelschweinborsten, Igelstacheln und die Hörner von Chamäleons, nicht zu vergessen die Haut von Ringelnattern, um daraus noch wirkungsvollere Zaubertränke zu brauen. Außerdem, oh ja, sei sie unterwegs gewesen, um Spiegel zu besorgen, in denen man Schatten einfangen könne, unabhängig davon, wie weit entfernt sie sich befänden, und auch die Gedanken eines Menschen, bevor dieser sie überhaupt denkt. Sie würde schon bald in den Schrein zurückkehren, sagte sie ihm, und wann immer er in Schwierigkeiten stecke, solle er nicht zögern, bei ihr vorzusprechen. A.G., der vor Furcht und Bewunderung immer größere Augen machte, freute sich sichtlich über die Einladung. Nyawĩra glaubte, einen Fehler gemacht zu haben. Was, wenn er bereits morgen auftauchte? Deshalb fügte sie schnell hinzu:
„Merk dir, es wird noch eine Weile dauern, bis ich wieder da bin. Die neuen Kräfte müssen reifen. Und was treibst du so früh hier in Santamaria? Ich weiß, dass mit deiner neuen Stelle alles in Ordnung ist.“
„Sie erstaunen mich wirklich mit Ihrer Fähigkeit, meine Gedanken zu lesen“, antwortete A.G. „Bei mir steht alles bestens“, prahlte er, „und das habe ich Ihnen zu verdanken. Ich will Ihnen etwas anvertrauen …“ – er senkte dabei die Stimme –, „ich bin mit einem Spezialauftrag hier. Kein Geringerer als Sikiokuu hat mich herbefohlen, und nicht etwa als irgendjemand, sondern als Leiter einer sehr speziellen Spezialoperation. Ehrlich! Haki ya Mungu. Und stellen Sie sich vor: In all den Jahren, die ich Dienst getan habe, bevor Sie mich mächtig gemacht haben, hat mir niemals jemand einen Auftrag gegeben, der die Bezeichnung „Spezial“ trug. Und jetzt sehen Sie mich an. Ich koordiniere die ganze Operation, deshalb bin ich hier. Drei meiner Leute warten im Mars Café und zwei weitere an den Straßenecken, um Ein- und Ausgang des Büros zu beobachten. Jeder Fluchtweg ist verstellt. Wie Sie sehen, sind wir in Zivil. Ich selbst kann nicht ins Mars Café, weil ich, wie Sie wissen, in dieser Gegend Dienst getan habe, und die Verbrecherin, die dort manchmal Kaffee trinkt, mich erkennen und ahnen könnte, dass etwas im Busch ist.“
„Und wer ist diese Verbrecherin? Eine Mörderin, eine Bankräuberin?“, fragte sie gelangweilt und ein wenig ungeduldig. Sie hatte es eilig, ins Büro zu kommen. Vielleicht würde sie sogar auf den Kaffee verzichten müssen – nein, auf den Kaffee verzichtete sie nicht, sie würde einen zum Mitnehmen holen.
„Schlimmer als ein Bankräuber oder ein Mörder“, flüsterte A.G. plump vertraulich, was sie irritierte. Doch was er dann sagte, brachte sie aus der Fassung. Sie spürte, wie sie eine Gänsehaut bekam und augenblicklich in Alarmbereitschaft versetzt wurde.
„Unter uns, Herr Zauberer, was diese Frauen da auf dem Bauplatz von Marching to Heaven gemacht haben, war sehr böse, wirklich schändlich. Ehrlich! Haki ya Mungu. Aber jetzt gibt es eine Verdächtige. Minister Sikiokuu hat ihre Verhaftung angeordnet. Anschließend ist sie ihm sofort vorzuführen. Ich weiß nicht, um wen es sich handelt oder wie sie aussieht, aber das ist kein Problem. Wir haben einen sehr kooperativen jungen Mann, der sie für uns identifizieren wird. Sikiokuu hält große Stücke auf ihn. Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, und ich spreche jetzt als gut ausgebildeter Polizist und Fachmann, ich halte nicht viel von diesen Typen von der Jugendbrigade, die glauben, sie wüssten alles. Trotzdem sind wir als Polizei auf die Hinweise unserer Informanten angewiesen, und dieser Kaniũrũ scheint seine Nase gut eingesetzt zu haben, um diese Frau aufzuspüren.“
Nyawĩra hatte das Gefühl, als wiche alle Energie aus ihr. Sie hatte Angst, die Knie könnten unter ihr nachgeben, aber sie nahm alle Kraft zusammen, damit ihr Gesicht oder ihre Stimme sie nicht verrieten. Sie stellte ihm ein paar Fragen, um herauszufinden, wie viel er über sie wusste. Sie war dankbar, für den Herrn der Krähen gehalten zu werden, und wollte diese Rolle weiterspielen, was auch geschah.
„Dieser John Nose, wo steckt er denn jetzt?“, fragte Nyawĩra.
A.G. brach in Gelächter aus, was Nyawĩras Beklommenheit noch verstärkte. Sie hatte nicht die Absicht gehabt, einen Witz zu machen. Spielte er Katz und Maus mit ihr?
„Sir Madam Herr der Krähen“, sagte A.G. zu Nyawĩras Erleichterung, „wir von der Polizei haben ihm denselben Spitznamen verpasst: Johnny, die Nase, und sobald einer von uns diesen Namen erwähnt, müssen wir immer lachen. Trotzdem unterschätzen wir ihn nicht – oh, nein, ich bestimmt nicht. Er ist ziemlich gerissen. Schließlich war er es, der uns diese Nyawĩra geliefert hat. Er sitzt gerade mit zweien meiner Leute, Kahiga und Njoya, im Mars Café. Ich muss jetzt los, und ich will Sie nicht aufhalten“, setzte A.G. entschuldigend hinzu. „Ich bin überzeugt, dass Sie viel zu erledigen haben, aber wenn Sie wieder im Schrein sind, werde ich auf Ihre Einladung zurückkommen und wegen des mächtigeren Zeugs bei Ihnen vorsprechen“, sagte A.G. und ging, immer noch lachend und den Namen „John Nose“ vor sich hinmurmelnd.
Nyawĩra tat, als würde sie den nächstgelegenen Laden betreten, wollte aber nur einen besseren Blick in die Richtung haben, die A.G. genommen hatte. Eine Sekunde spielte sie mit dem Gedanken, am Mars Café vorbeizugehen und herauszufinden, ob Kaniũrũ tatsächlich dort saß. Das aber wäre, als steckte man den Finger in ein Hornissennest. Sie verließ das Geschäft und gab vor, weiter in ihre ursprüngliche Richtung zu gehen. An der nächsten Straßenecke bog sie schnell ab.
„Nie war ich dankbarer dafür, dass so viele Menschen auf Eldares’ Straßen unterwegs waren“, erzählte Nyawĩra Kamĩtĩ.