9

Kamĩtĩ eilte, nachdem er vom mkokoteni gesprungen war, zu Maritha und Mariko, wie Nyawĩra es ihm gesagt hatte. Die Sonne ging unter, und sein langer Schatten fiel auf Mariko, der im Garten war. Ungerührt rief Mariko zu Maritha hinüber, dass es so aussehe, als hätte ein rauer Wind einen Fremden in ihren Garten geweht. Und Maritha rief zurück: „Was ist los? Warum bittest du ihn nicht herein?“ Mariko sprach kein Wort mit Kamĩtĩ, sondern ging einfach ins Haus. Kamĩtĩ folgte ihm. Maritha wies auf einen Stuhl, doch sprachen weder sie noch Mariko den Fremden direkt an. Man unterhält sich nicht mit einem hungrigen Magen, meinten Maritha und Mariko, und ein paar Minuten später standen Tee und Brot vor dem Besucher.

Kamĩtĩ wusste nicht, was er ihnen sagen sollte, weil er keine Ahnung hatte, was Nyawĩra ihnen über ihn und seine gegenwärtige Lage erzählt hatte. Seine Gastgeber beachteten ihn nicht weiter. Sie unterhielten sich, als wäre er gar nicht vorhanden, und sprachen sogar über Dinge, die ihn betrafen.

Eine Katze mit weißem Stirnmal erschien in der Tür, schaute sich um, ging geradewegs zu dem Besucher und strich ihm schnurrend um die Beine. Kamĩtĩ empfand eine seltsame Erregung in der Bauchgegend. Das war die Katze, die er bei den verkohlten Überresten seines Schreins gesehen hatte. Er wollte schon sagen, dass er die Katze kannte, überlegte es sich aber anders und verbarg seine Irritation, indem er sie streichelte.

„Unser stromernder Held ist wieder da“, sagte Mariko.

„Und er schließt nicht so leicht Freundschaft“, sagte Maritha.

„Trotzdem geht er zu unserem Gast …“, fügte Mariko hinzu.

„Als wären sie alte Freunde“, ergänzte Maritha.

Sie unterhielten sich weiter, sprangen von einem Thema zum nächsten. Kamĩtĩ streichelte die Katze und versuchte, ihrer Unterhaltung etwas zu entnehmen.

Sie redeten über ihre ehrenamtlichen Tätigkeiten in der All Saints Cathedral.

„Wenn wir in der Lage sind, die Tauben zu füttern, dann können wir auch obdachlose Bettler wie diesen hier versorgen“, sagte Maritha zu Mariko.

„Stimmt, der Keller ist gemütlich, und die Obdachlosen wissen, dass sie sich auf heiligem Boden befinden und deshalb lernen müssen, zu teilen und in Frieden zu leben.“

Dieses seltsame Gespräch, das erkannte er jetzt, war für ihn bestimmt; sie würden sich um ihn kümmern.

Und so wurde er zum Bewohner im Keller der All Saints Cathedral. Während der ersten Tage war die Katze seine einzige Gesellschaft, die, nachdem sie tagsüber fort gewesen war, abends kam, um sich an ihn zu schmiegen. Maritha und Mariko brachten ihm morgens und abends zu essen und achteten darauf, dass es ihm gut ging. Bei den seltenen Gelegenheiten, wenn Maritha oder Mariko allein kamen, gaben sie Informationen weiter, indem sie wie abwesend laute Selbstgespräche führten.

„Es gibt viel zu tun in der Kirche. Heute Morgen muss ich das Gestühl abwischen und abends trotzdem noch mal hierher. Und meine Vögel? Sie sprechen ihre eigene Sprache. Aber die Leute werden mir vermutlich nicht glauben, wenn ich ihnen sage, dass mir eine Taube die Nachricht geschickt hat, dass die Menschen nicht verzweifeln sollen; denn keine Nacht ist so lang, dass sie nicht im Morgengrauen endet.“

Und bei anderer Gelegenheit: „Oh, ich weiß nicht, wie dieses Drama vor dem Parlament und dem Gericht enden wird. Tausende Leute aus allen Winkeln des Landes, die sich da versammeln! Warum belästigen sie den Herrscher wegen seiner Schwangerschaft? Wissen sie denn nicht, dass Männer zwar säen, aber nicht gebären können?“

Manchmal musste er sich beherrschen, wegen ihrer Possen nicht laut loszulachen. Meistens dachte er an die Hinkende Hexe, die einzigartige Eleganz ihres Körpers und ihres Geistes, und wann immer er daran dachte, wie sie auch ihn mit ihrem Hinken und dem verzerrten Gesicht hinters Licht geführt hatte, fühlte er sich besser, weil er ihren Mut und ihre Phantasie bewunderte. In ihm brannte das Verlangen, Nyawĩra zu berühren, sie sprechen zu hören, sie lachen zu sehen oder einfach nur mit ihr zusammen zu sein. Doch trotz dieser Euphorie dachte er häufig an die Gefahren, denen sie jetzt ausgesetzt war, und das machte ihn ängstlich, traurig und besorgt.

Und dann zogen eines Nachts zwei weitere Obdachlose in den Keller ein. Es war gut, außer der Katze, die bislang seine einzige Gefährtin gewesen war, jemanden zur Gesellschaft zu haben. Als er aber am Morgen erwachte und sah, wie ihm die Neuankömmlinge verstohlene Blicke zuwarfen, fühlte er Kälte aus der Magengrube aufsteigen. Es waren Kahiga und Njoya. Die beiden Polizisten hatten ihn erfolgreich an diesem Ort aufgespürt, und jetzt gab es kein Entrinnen mehr. Kamĩtĩ entschied, Schweigen wäre der beste Angriff und die beste Verteidigung für ihn.

„Keine Angst“, beeilte Njoya sich, ihm zu sagen. „Wir wissen, dass Sie der Herr der Krähen sind, aber wir werden das niemandem verraten, nicht einmal diesem Paar. Sollen sie weiter glauben, dass Sie ein Obdachloser sind. Wir beide sind wirklich obdachlos, aber wir werden weiter so tun, als wären Sie einer von uns.“

Er erfuhr von ihrer Entlassung, und tatsächlich gelang es ihm, aus ihrem unablässigen Gerede so viel zu entnehmen, dass er die Lücken in seinem Wissen über die Geschehnisse im Land füllen konnte.

Was wollen die wirklich?, fragte sich der Herr der Krähen und musste nicht lange auf die Antwort warten. Was sie ihm sagen wollten, war nur für seine Ohren bestimmt, und während sie sprachen, rückten sie auch schon näher.

Die Katze miaute, verließ das Gewölbe, und ihr Abgang schien wie das Signal für den nächsten Akt. Kahiga beugte sich an sein linkes Ohr, Njoya an das rechte, und beide flüsterten eindringlich.

Der Herr der Krähen war verblüfft, weil sie es ernst meinten, doch was sie sagten, ergab keinen Sinn. Hörte er richtig, dass das Geld, das er im Grasland vergraben hatte, zu drei Pflanzen ausgewachsen war, auf denen Dollars blühten, die später von einer Armee seltsam aussehender Termiten gefressen worden waren, die angeblich er in das State House geschickt hatte?

„Das war eine gute Idee, die Termiten zu schicken“, erklärten sie ihm. „Der Herrscher kennt nämlich nicht die geringste Dankbarkeit.“

Sie wurden lästig. Sobald er sich ein Stück zurückzog, folgten sie ihm, und wenn er sich umdrehte, taten sie dasselbe, jeder hielt sich dabei an ein Ohr.

Es war Sonntagmorgen und in der Kathedrale wimmelte es von Gläubigen. Die Hymnen und Gebete von oben drangen störend in das fortwährende Flüstern an seinen Ohren.

Und dann ertönte plötzlich ein noch heftigeres Geräusch: der Klang eines Megafons.

„Wir kennen den Klang dieses Megafons“, erklärte Kahiga. „Verraten Sie uns das Geheimnis, bitte“, flehte er inständig.

„Sie können mit nur wenigen Worten unsere Familien retten“, ergänzte Njoya.

„Bitte verraten Sie uns das Geheimnis, wie man Geld anbaut“, bedrängten sie ihn.

Jetzt war es endlich heraus. Sie alle, der Herrscher, Tajirika und diese beiden, waren nur auf das Geheimnis aus, wie Geld auf Bäumen wächst. Doch dieser Gedanke wurde jetzt von einer drängenderen Sorge überlagert: Was hatten sie über das Megafon gesagt?

In diesem Augenblick miaute die Katze wieder, zweimal hintereinander. Sie war wieder da. Und dann sah er Maritha und Mariko am anderen Ende des Kellers, die ihm ein Zeichen gaben, ihnen zu folgen.

Er traf eine schnelle Entscheidung. In der Vergangenheit war er durch Worte aus vielen brenzligen Situationen herausgekommen. Durch seine Worte. Aber er hatte sich in seinem selbst auferlegten Schweigen verfangen. Wer war er, wenn er keine Stimme hatte?

„Lasst mich in Ruhe“, sprach der Herr der Krähen plötzlich, nur um Kahiga und Njoya zu bewegen, von seinen Ohren abzulassen und ihm nicht weiter zu folgen.

Das erschrockene Paar zog sich zurück, doch als ihnen bewusst wurde, dass der Herr der Krähen tatsächlich gesprochen hatte, eilten sie wieder an seine Seite und hielten die Ohren dicht an seinen Mund. Er enttäuschte sie nicht.

„Es ist unnatürlich, wenn Geld Geld gebiert“, sprach er gereizt. „nur die Banken kennen das Geheimnis von Geld, das Geld produziert. Sie verbergen dieses Geheimnis in Anlagebüchern und auf Computerbildschirmen. Aber ich werde mir jetzt das Wort Gottes anhören“, sagte er energisch und ging los.

Njoya und Kahiga waren außer sich vor Freude. Hatte Tajirika deshalb Mwathirika Ltd. gegründet?

„Hier!“, rief Njoya, während Kahiga und er ihm rasch hinterherrannten.

„Wir haben es Ihrer Assistentin versprochen, erinnern Sie sich?“ sagte Kahiga und zog einen kleinen Plastikbeutel aus der Tasche. „In unserer Freude hätten wir es beinahe vergessen.“

„Die Haare, die Ihnen ausgefallen sind“, ergänzte Njoya, bevor er und Kahiga auf den Ausgang zusteuerten.

Herr der Krähen
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