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„Als Kinder haben wir oft Zauberer gespielt. Wir haben einen Holzspieß durch ein Bündel aus Blättern, einem toten Frosch oder einer toten Eidechse und ein oder zwei Sodom-Äpfeln gespießt und dann das Ganze mitten auf einem Pfad in die Erde gesteckt. Aus sicherer Entfernung haben wir die Stelle beobachtet. Am meisten erregte uns, wie die Erwachsenen, ausgewachsene Männer und Frauen, jede Berührung mit diesem Bündel vermieden. Einige traten sogar einen oder zwei Schritte zurück, bevor sie es in einem großen Bogen umrundeten. Niemand wagte, es zu berühren. Manchmal blieb das Bündel weiß Gott wie lange an derselben Stelle liegen.
Gleich außerhalb unseres Dorfes gab es eine große Obstplantage mit Pflaumen-, Pfirsich-, Mango-, Orangen-, Mandarinen- und Zitronenbäumen, und jedes Mal, wenn wir an diesem Garten Eden vorbeikamen, ließ der Besitzer seine Hunde auf uns Kinder los, damit wir nicht sein Obst stahlen. Einige stiegen trotzdem über den Zaun, und wenn sie zurückkamen, beulten sich ihre Taschen mit gestohlenen Früchten. Trotzdem war es alles andere als in Ordnung, dass er auf einem öffentlichen Weg die Hunde auf uns hetzte, und noch mehr hassten wir, dass er uns alle für Diebe hielt, die eine Bestrafung verdienten, ganz egal, ob wir etwas gestohlen hatten oder nicht.
Eines Tages beschlossen wir, unsere Zauberkräfte auch an unserem Peiniger auszuprobieren. Wir präparierten das magische Bündel auf die gleiche Weise, machten es aber noch wirksamer. Wir fügten den toten Fröschen und den Sodom-Äpfeln noch ein paar tote Chamäleons hinzu und platzierten den Spieß in einer Ecke der Plantage, wo er von Vorbeigehenden gesehen werden konnte.
Es funktionierte tatsächlich. Sogar ein bisschen zu gut für unseren Geschmack. Der Bauer war so verängstigt, dass er einen Zauberheiler beauftragte, die Macht des Bösen unschädlich zu machen, die ohne Zweifel von neidischen Konkurrenten auf sein Land gepflanzt worden war. Aber seine Gegenmaßnahme half nicht, weil sich die Leute nun davor fürchteten, zwischen zwei sich bekämpfende Magien zu geraten. Die Sache sprach sich herum, und bald weigerten sich Groß- und Einzelhändler aus anderen Regionen, das Obst des Mannes auch nur anzufassen.
Ein indischer Kaufmann bewahrte ihn vor dem Ruin. Er sagte, afrikanischer Zauber könne indischer Magie nichts anhaben und kaufte das Obst zum Abfallpreis auf. Als Begründung gab er an, er müsse viel Geld dafür aufwenden, die Früchte mit mächtigen, direkt aus Indien importierten Zaubertränken zu reinigen.
Anfangs waren wir Zauberlehrlinge glücklich über unseren Erfolg und dachten, wir wären raffinierter als alle Erwachsenen und Berufszauberer zusammen, weil wir sie zum Narren gehalten hatten. Und weil wir glaubten, dass unsere Eltern, die den Besitzer der Obstplantage ebenfalls nicht leiden konnten, sich darüber freuen würden, ließen wir sie an unserem Triumph teilhaben. Die Prügel, die wir bekamen, haben uns bis heute alle Gedanken an ein Herumspielen mit Zauberei ausgetrieben.“
„Warum haben sie euch bestraft? Weil ihr euch mit Hexerei beschäftigt habt oder weil ihr sie benutzt habt, um den Landbesitzer zu ruinieren?“
„Wahrscheinlich wegen beidem. Wie können Kinder es wagen, einem Erwachsenen so etwas anzutun? Und noch dazu einem Nachbarn? Aber ich glaube eher wegen unseres Spiels mit der Hexerei. Wer weiß? Selbst völlig unschuldige Handlungen eines Säuglings können gefährliche Geister aus der anderen Welt hervorlocken, die dann die Lebenden verfolgen. Wir hätten also wissen müssen, dass unsere Eltern kaum zu uns sagen würden: Vielen Dank für euren Einfall, Zauberheiler zu werden.“
„Aber für den Zauber von heute Nacht danke ich dir. Er hat uns gerettet“, sagte Nyawĩra und fügte etwas ernsthafter hinzu: „Wann hast du dich eigentlich den Bettlern angeschlossen? Ich habe dich noch nie in der Gruppe gesehen.“
Kamĩtĩ schlang eine Ladung ugali hinunter.
„Wo soll ich anfangen?“, fragte er, um Zeit zu gewinnen und seine Geschichte zu ordnen. „Ich komme aus Kĩambugi. Meine Eltern waren arm und das Schulgeld für mich aufzubringen, war eine enorme Belastung für sie. Sie mussten ihre Hühner verkaufen, dann die Ziegen und schließlich ihr Land, sodass sie nichts für schlechte Tage zurücklegen konnten. Als ich mit der Universität fertig war, glaubte ich, nun wäre ich an der Reihe, ihnen meine Dankbarkeit zu zeigen. Aburĩria aber war anderer Meinung. Für meine Freunde war ich die reinste Plage – hab den einen um einen Schlafplatz für die Nacht gebeten, den anderen um etwas zu essen. Von überall hab ich mir das Fahrgeld zusammengeborgt.“
„Und Bahati? Du hast gesagt, du wohnst in Bahati!“, fragte sie.
„Tut mir leid, das war gelogen oder eher eine Irreführung. Ich habe mit der doppelten Bedeutung des Wortes gespielt, dir einen Ort genannt, den es tatsächlich gibt. In Wirklichkeit lebe ich, wohin mich das Glück und der Zufall führen. Eines Tages habe ich mir geschworen, meinen Freunden nicht länger zur Last zu fallen. Ich wollte in die Fußstapfen von Johannes dem Täufer treten und mein Lager in der Wildnis aufschlagen. Wie die Obdachlosen wollte ich meinen Unterhalt im Müllberg suchen. Anfangs habe ich mich gut gefühlt, weil ich vor meinen Freunden nicht mehr meine Würde verlieren musste, aber die Selbsterniedrigung schlug mir ziemlich auf die Seele. Wenn du deine Selbstachtung verlierst, was bleibt dir dann?
Diese Frage hat mich gequält, also habe ich eines Tages entschieden, dass mein Leben eine andere Richtung nehmen muss, vielleicht zum Weg eines buddhistischen Mönches. Ich habe mich sozusagen für zwei Uniformen entschieden, die des Jobsuchenden bei Tag und die des Bettlers bei Nacht. Heute war mein erster Abend als Bettler, und schau, was er mir gebracht hat …“
Kamĩtĩ machte eine Pause. Er spürte, Nyawĩra hörte ihm nicht richtig zu, und er hatte recht. Ihre Augen sagten alles, auch als sie ihren Zweifel zum Ausdruck brachte.
„Du meinst, du warst dort, um wirklich zu betteln?“, fragte sie.
„Klar, du doch auch, oder?“, antwortete Kamĩtĩ verblüfft.
„Du meinst, du bist nicht einer von uns?“
„Wie meinst du das? Einer von euch? Was wolltest du in deinen Bettlerlumpen vor dem Paradise?“
„Nichts. Rein gar nichts. Wir protestieren gegen den Geburtstagskuchen des Herrschers und die Global-Bank-Delegation, weil die uns in eine Schuldenfalle treiben, aus der wir nie wieder herauskommen. Wir alle müssen uns Marching to Heaven entgegenstellen.“
„Indem wir so tun, als wären wir arme Bettler?“ In Kamĩtĩs Stimme lag etwas Bitterkeit. „Wo ist der Zusammenhang zwischen Politik machen und Lumpen tragen? Du glaubst, betteln ist nur Theater?“
„Ein Theater der Politik“, antwortete sie scharf. „Das Wasser, das ich trinke, das Essen, das ich zu mir nehme, die Kleider, die ich trage, das Bett, in dem ich schlafe, all das wird von Politik beherrscht, guter wie schlechter. In der Politik geht es um Macht und wie sie eingesetzt wird. Politik heißt auch, sich im Kampf um die Macht für die eine oder andere Seite zu entscheiden. Also, auf wessen Seite stehst du?“
„Muss man sich immer für eine Seite entscheiden? Ich glaube an die Menschlichkeit, die göttlich und unteilbar ist. Jeder soll tief in sein Herz schauen, und die Menschlichkeit wird sich in all ihrem Glanz zeigen. Und dann werden die Gier und der Antrieb, andere zu erniedrigen, verschwinden.“
„Und diese glorreiche Menschlichkeit, über die du dich so poetisch auslässt, warum kehrt sie sich gegen sich selbst? Etwa wegen der Erbsünde?“
„Hör zu. Ich bin kein Priester. Ich bin kein Politiker. Die Widerwärtigkeit dieser Welt übersteigt meine Kräfte.“
„Und warum hast du dich ausgerechnet vor dem Tor des Paradise aufgebaut? Es gibt doch genügend andere Sieben-Sterne-Hotels in Eldares.“
Er antwortete nicht sofort. Bilder der Ereignisse des Tages schossen ihm durch den Kopf. Sollte er ihr alles erzählen? Einer völlig Fremden? Nein, nicht alles.
„Ich habe mir das nicht ausgesucht“, erklärte er jetzt. „Ich bin einfach dort gelandet. Ich war blind vor Hunger und Wut. Ich bin dahin gegangen, wo es mich hingeführt hat. Alles, was im Leben geschieht, ist Schicksal. Das Schicksal fällt wie der Regen vom Himmel, und wie der Regen fällt es nicht auf alle in gleichem Maße. Glück kommt, wie das Unglück auch, von Gott.“
Nyawĩra unterbrach ihn und stimmte eine Hymne an:
Im christlichen Himmel werden wir uns wiedersehen
Wir werden uns wiedersehen im christlichen Himmel
Sie lachte leise. Kamĩtĩ sah sie an: Diese Frau war wie ein Chamäleon. Einmal war sie eine zuverlässige Sekretärin, dann redete sie über den Zusammenhang von Politik und Armut, und gleich darauf spielte sie die singende religiöse Fanatikerin.
„Bist du religiös?“, fragte sie ihn.
„Warum?“
„Weil du gesagt hast, das Gute wie das Schlechte kommt vom Himmel auf uns herab, ohne dass wir es beeinflussen können. Bist du in Indien zu einer Religion übergetreten, die daran glaubt, dass die Armen arm und die Reichen reich auf die Welt kommen? Dass ihr Schicksal vorherbestimmt ist? Wenn dem so wäre, was brächte es, ins eigene Herz zu blicken, um die Menschlichkeit in all ihrer Pracht zu erfahren? Was, wenn das, was man sieht, verdorben ist? Was, wenn das Verdorbene vom Schicksal vorherbestimmt ist?“
„Das weiß ich nicht“, meinte Kamĩtĩ ausweichend.
„Was heißt das, du weißt es nicht?“ Nyawĩra blieb hartnäckig. „Wie kannst du religiös sein und es nicht wissen? Oder nicht wissen, welcher Religion du dich angeschlossen hast?“
„Weil … weil … ich weiß nicht. Manchmal fühle ich mich von unbeantwortbaren Fragen vollkommen überfordert. Wer hat das Universum erschaffen? Das Leben in den Körpern von denen, die sterben, was wird daraus? Oder ist das Leben nur eine Illusion? ,Maya‘, wie der Inder Shankara lehrt. Manchmal nachts, wenn ich allein draußen in der Wildnis auf dem Rücken liege und zu den Sternen und dem unermesslichen Universum aufsehe, habe ich das Gefühl, als ob mich etwas aus mir heraushebt … ich meine, ich höre, wie mir Stimmen sagen, Kamĩtĩ, warum machst du dir solche Sorgen? Siehst du, wie grenzenlos das Universum ist? Was bist du angesichts seiner Ewigkeit und Unendlichkeit? Nein, ich würde nicht sagen, dass ich religiös bin, aber ich glaube an etwas, das größer ist als wir. Und du?“
„Hast du schon mal vom Tier aus der Erde gehört?“, fragte Nyawĩra ihn plötzlich. „Du hast sicherlich das Gerücht gehört, dass der Herrscher von Aburĩria den Teufel anbetet und dass er das im Namen des Tiers aus der Erde tut?“
Kamĩtĩ ahnte mehr, als dass er genau wusste, worüber sie sprach, aber es reichte aus, von Neuem Verdächtigungen in ihm aufkommen zu lassen. Gehörte diese Frau vielleicht zum gefürchteten M5 des Herrschers? Würde das nicht erklären, warum sie sich als Bettlerin verkleidet hat? War er Opfer eines weiteren Komplotts? Und sie versuchte, ihn bloßzustellen? Wenn ja, dann beherrschte sie das recht gut. Ihre Art zu reden und ihre Freundlichkeit hatten ihn weich werden lassen. Auch wenn sie nicht in allem übereinstimmten, so hatten ihre unterschiedlichen Meinungen weder Hass noch Unmut aufkommen lassen. Sie unterhielten sich, als wären sie gemeinsam aufgewachsen, hätten Zeiten des Glücks und der Trauer miteinander durchlebt. Kamĩtĩ empfand ihre Gesellschaft als so vertraut, dass er das Gefühl hatte, ihr seine geheimsten Gedanken und Erfahrungen anvertrauen zu können. Aber waren die Agenten des Staates nicht dafür bekannt, ihre Opfer so lang zu bezirzen, bis sie aus der Deckung kamen, um dann über sie herzufallen? Kamĩtĩ nahm sich jetzt vor Nyawĩra in Acht und zog sich in sich zurück.
„Was meinst du mit dem Tier aus der Erde?“
„Das, das auf dem Bauch kriecht.“
„Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.“
„Das Tier, das Adam und Eva betrogen hat.“ Nyawĩra erhob sich, ging zu ihrer Bettlertasche und beugte sich darüber. Kamĩtĩ sah, dass sie etwas herausholte, was sie nun hinter ihrem Rücken versteckt hielt, als sie ihm gegenüberstand.
„Mach die Augen zu“, sagte sie lächelnd.
Kamĩtĩ bedeckte seine Augen mit den Handflächen, spähte aber durch den Spalt zwischen seinen Fingern.
„Augen wieder auf!“, sagte Nyawĩra und ließ das, was sie in ihrer Hand hielt, wenige Zentimeter vor seinem Gesicht baumeln. Kamĩtĩ sprang auf.
„Eine Schlange!“, schrie er und rannte zur Tür.
Aber Nyawĩra verstellte ihm den Weg.
„Nein, ich lasse dich nicht gehen“, sagte sie und streckte ihm die züngelnde Schlange entgegen. „Das ist eine Viper, sie ist gefährlich“, flüsterte sie drohend.