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Für Nyawĩra war die Zeit, in der Kamĩtĩ in Kĩambugi und sie der alleinige Herr der Krähen war, sehr anstrengend. Es kamen so viele Klienten mit Problemen von Körper, Seele und Herz, dass sie kaum Zeit fand, die Zeitung zu lesen. Sie schwor sich, Kamĩtĩ nie wieder so lange wegfahren zu lassen. Einen Tag vielleicht, aber niemals zwei volle Wochen!

Eines Morgens sah sie im Wartezimmer einen Klienten, der die Eldares Times las, und konnte nicht umhin, einen Blick auf die Schlagzeilen zu werfen. Sie blieb wie angewurzelt stehen und hatte das Gefühl, als würde ihr Herz versagen. Sie rieb sich die Augen, um klarer zu sehen, aber mit ihren Augen war alles in Ordnung.

Auf dem Foto erkannte sie ihren Vater. Er stand neben Sikiokuu. Die Schlagzeile lautete: EIN VATER AN SEINE TOCHTER: KOMM NACH HAUSE, SONST … Sie war kurz davor, den Kunden zu bitten, ihr die Zeitung zu leihen, besann sich aber. War das eine Falle? Sie ließ sich nichts anmerken und schickte später eine Gehilfin, eine Zeitung zu holen.

Die Geschichte erwies sich beim Lesen lediglich als wortreiche Aufblähung der plakativen Überschrift. Trotzdem traf es sie schwer. Ihr Vater forderte sie auf, aus ihrem Versteck zu kommen, aufzugeben und sich dadurch seine Dankbarkeit und seinen Segen zu verdienen.

„Wenn du dich nicht innerhalb einer Woche stellst, werde ich dich, und das sage ich hier öffentlich und vor der ganzen Welt, nie wieder meine Tochter nennen, denn ich bin dem Herrn im Himmel und dem Herrscher auf Erden treu ergeben.“

Auch wenn Nyawĩra nicht immer mit ihrem Vater übereinstimmte, liebte und verehrte sie ihn, und die angekündigte öffentliche Lossagung schmerzte und demütigte sie. Wie oft wollte er sie noch verleugnen, fragte sie sich und dachte an seine Reaktion, als sie ihm ihre Liebe zu Kaniũrũ gestanden hatte. Andererseits hatte sich sein Urteil über Kaniũrũs Charakter und Absichten als richtig erwiesen. Was, wenn er jetzt wieder recht hatte? Würde sie ihr Engagement für eine andere Politik eines Tages ebenso bereuen wie ihre Beziehung mit Kaniũrũ? Dass ihre Mutter nicht auf dem Foto war und auch im Artikel nicht erwähnt wurde, gab ihr das Gefühl, dass mehr dahintersteckte.

Als sie weiter las, wurde vieles klarer. Sikiokuu wurde dahingehend zitiert, die Regierung werde in ihrem Bemühen, Nyawĩra und die Führung der Bewegung für die Stimme des Volkes zu fassen, keinen Stein auf dem anderen lassen. Er bezeichnete sie als Reptilien, weil die Plastikschlange ihr Erkennungszeichen war. Man werde sie zu Staub zermalmen.

Wann und wie war es dazu gekommen, dass ihr Vater gemeinsame Sache mit Sikiokuu machte?, fragte sich Nyawĩra. Sie konnte nicht glauben, dass ihr Vater sein Geschäft im Stich ließ und den langen Weg zu Sikiokuus Büro fuhr, nur um sie zu denunzieren. Matthew Wangahũ mochte an den Status quo glauben, aber er war, wie alle anderen seines Standes auch, stolz darauf, es aus eigener Kraft geschafft zu haben und nicht, indem er von staatlichen Geldern profitierte – das Volk bestahl, um genau zu sein. Er würde sich niemals öffentlich von seiner Tochter lossagen, es sei denn, er stand unter erheblichem Druck.

In einem anderen Artikel wurde Sikiokuu mit den Worten zitiert, von Mr. Kaniũrũ die Einladung erhalten zu haben, offiziell die Büros des Stellvertretenden Vorsitzenden von Marching to Heaven und des Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses zum Schlangenwahn zu eröffnen. Tag und Ablauf der Feierlichkeit würden rechtzeitig bekannt gegeben. Ein Foto Kaniũrũs war zwar nicht abgedruckt, aber er wurde in seiner doppelten Funktion zitiert, wonach er alle Einwohner von Santamaria und Santalucia – vor allem die Sänger und Tänzer – aufgerufen habe, zahlreich zur Begrüßung von Minister Sikiokuu zu erscheinen. Auch er forderte Nyawĩra auf, aus ihrem Versteck zu kommen und diejenigen, die sie liebten, wie ihre alten Eltern zum Beispiel, wieder ruhig schlafen zu lassen. Und er verkündete, sie würde auch für den Untersuchungsausschuss von Nutzen sein.

Nyawĩra begann zu erkennen, wie die Dinge standen. Kaniũrũs anklägerischer Pflichteifer war offensichtlich. In dem Moment, als sie von Kaniũrũs Ernennung zum Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses erfahren hatte, war ihr sofort klar, dass er fähig sein würde, seine neu erworbene Macht dazu einzusetzen, Familien zu terrorisieren. Dass dies bei ihrer eigenen Familie so früh der Fall sein würde, hatte sie allerdings nicht vermutet.

Die Ironie der Situation wurde ihr bewusst. Zur selben Zeit, da ihre neue Liebe Kamĩtĩ seine Eltern besuchte, hatte ihre ehemalige Liebe Kaniũrũ ihren Vater in die Stadt geschleift, um sie zu verleugnen. Der einzige Trost war, dass ihre Mutter sich herausgehalten hatte, und Nyawĩra spürte Tränen der Dankbarkeit in sich aufsteigen.

Doch dann wurde sie wütend und kämpferisch. Sie hörte sich laut mit ihrem unsichtbaren Feind sprechen: Egal was du anstellst, Kaniũrũ, niemals werde ich vor deinem Untersuchungsausschuss erscheinen.

Herr der Krähen
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