7
„Danke, mein Bruder“, sagte Sikiokuu, umarmte Kaniũrũ und führte ihn ins Büro.
Kaniũrũ war von der Wärme des Empfangs überrascht, weil dies den Anschein erweckte, sie seien gleichrangig. Es hatte ihm schon geschmeichelt, als einziger Fahrgast in einem Mercedes mit Chauffeur und einem kleinen aburĩrischen Fähnchen zu sitzen. Nie hätte er sich träumen lassen, einmal im Fond eines Wagens Platz zu nehmen, dessen Nummernschild mit „MK“ – Minister im Kabinett – begann. Die Magie des Zauberers wirkte in einer Weise, mit der er nicht gerechnet hatte, und für einen Moment fehlten ihm die Worte.
„Setz dich, mein Bruder“, sagte Sikiokuu und überschüttete ihn mit übertriebener Aufmerksamkeit. Kaniũrũ fühlte sich, dank der Magie des Herrn der Krähen, wie ein Prinz.
Trotzdem war er in einer verzwickten Lage. Der Herr der Krähen hatte ihn ausdrücklich gewarnt, niemandem zu sagen, was er im Schrein gesehen oder gehört hatte. Was genau hatte der Hexendoktor damit gemeint? Dass er niemals über den Herrn der Krähen reden durfte? Oder über seine Medizin? Was würde geschehen, wenn er gegen den Eid verstieß, den er dem Zauberer geschworen hatte? Kaniũrũ hatte keine Lust, das auf Kosten seiner Zukunft herauszufinden. Ganz egal, wie brüderlich Sikiokuu auch tat, Kaniũrũ war nicht bereit, für den Minister sein Leben aufs Spiel zu setzen.
Außerdem hatte Kaniũrũ Angst vor der möglichen Reaktion Sikiokuus. Wie sollte er seinen Besuch im Schrein erklären, ohne zu verraten, dort gewesen zu sein, um denselben magischen Schutz zu erbitten, von dem Tajirika im Video gesprochen hatte? Er fürchtete, unfreiwillig den Ursprung seines plötzlichen Reichtums preiszugeben: die künftigen Vertragspartner von Marching to Heaven. Nein, Sikiokuu musste weiter im Unklaren bleiben. Sonst verlangte er womöglich noch einen Anteil und forderte vielleicht sogar das Recht des Ranghöheren ein. Nein, die Quelle seines neuen Reichtums und die Bankkonten mussten ein Geheimnis bleiben, von dem nur er und Jane Kanyori wussten. Wie aber sollte er Informationen weitergeben, ohne sich gegen den Herrn der Krähen zu stellen oder seine eigenen Interessen aufs Spiel zu setzen, indem er Minister Sikiokuu mehr wissen ließ, als dieser erfahren durfte?
Erneut kam ihm der Gedanke an den Herrn der Krähen zu Hilfe. Der Zauberer hatte gesagt: „Achte genau darauf, was du von jetzt an sagst. Was einen Menschen vergiftet, geht durch seinen Mund.“ Er wusste, dass die Wahrheit einen in Aburĩria in Schwierigkeiten bringen konnte. Er musste kontrollieren, wie viel davon jetzt durch seinen Mund ging.
Es war, als hätte Kaniũrũ die Geschichte einstudiert, so leicht ging sie ihm über die Lippen, als er nun erzählte, wie er, nachdem er Tajirikas Video gesehen hatte, zum Herrn der Krähen gegangen war, um herauszufinden, ob Tajirikas Geschichte der Wahrheit entsprach, und wie er so getan hatte, als litte auch er unter der Krankheit der Worte.
„Hervorragend“, rief der Minister, der die Gerissenheit seines Bruders Kaniũrũ bewunderte.
„Und wissen Sie, was das Verblüffendste an diesem Hexer ist?“, fuhr Kaniũrũ fort. „Er wusste meinen Namen, meine neue Stellung, er wusste einfach alles über mich und er las es aus einem Spiegel, den er in der Hand hielt. Leider wusste er aber auch sofort, dass ich log, was meine Krankheit anging.“
„Tatsächlich?“
„Ja, und um Ihnen die Wahrheit zu sagen, seine Reaktion überraschte mich sogar noch mehr. Er hätte nur für diejenigen Zeit, die wirklich krank seien, und deshalb schickte er mich fort und befahl mir, nie wieder dort aufzutauchen. Als ich ging, wusste ich also nicht mehr über die außergewöhnlichen Behauptungen Tajirikas als zuvor. Es gab dort nichts Berichtenswertes zu hören oder zu sehen. Was ich Ihnen jetzt sage, habe ich also nicht im Schrein gehört oder gesehen, es ist mir erst im Nachhinein gekommen. Wissen Sie, als ich wieder zu Hause war, habe ich über die enormen Fähigkeiten dieses Mannes nachgedacht und mir wurde sofort klar, dass dieser Zauberer uns zu Nyawĩra führen könnte. Es war wie eine Offenbarung.“
„Von diesem Herrn der Krähen scheint jeder dahergelaufene Kerl besessen zu sein!“, kommentierte Sikiokuu mit leiser Enttäuschung. „Und was ich überhaupt nicht wusste, ist, dass er auch noch als Detektiv arbeitet“, setzte er sarkastisch hinzu.
„Glauben Sie mir, Mr. Minister, trotz der nur kurzen Begegnung kann ich behaupten, dass er durch und durch ein echter Seher ist. Das Auge seines Spiegels blickt in die Ferne und durchdringt alles“, erlaubte sich Kaniũrũ einen poetischen Ausflug, nahm sich aber sofort wieder zurück, als ihm die ernste Warnung des Zauberers in den Sinn kam. „Es tut mir leid, wegen meiner Krankheit gelogen zu haben. Wenn ich das nicht getan hätte, hätte ich viel mehr herausgefunden. Ich kann mich nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern, aber meine Erfahrung mit dem Herrn der Krähen hat mich überzeugt. Mit ihm wären wir auf dem richtigen Weg.“
Sikiokuu schwieg eine Weile und wog ab, was Kaniũrũ ihm gerade erzählt hatte. Bis jetzt war Kaniũrũ der Einzige, der überhaupt Informationen geliefert hatte, wie der Staat bei der Zerschlagung der Bewegung für die Stimme des Volkes Erfolg haben könnte. Er hatte dazu beigetragen, Nyawĩra zu enttarnen. Er hatte sie mit einem Foto von Nyawĩra versorgt, als junge, unverheiratete Frau und mit einigen aus der Zeit, als sie Kaniũrũs Frau gewesen war. Es waren die einzigen Fotos, die die Polizei von ihr hatte. Er hatte geholfen, Tajirika in die Falle zu locken, und wesentlichen Anteil daran, dass die Fotos von Vinjinia und den tanzenden Frauen aufgenommen wurden. Warum sollte er Kaniũrũs Idee einfach abtun, so verrückt sie auch klang? Und außerdem hatte der Herrscher ihm befohlen, bei der Suche nach Nyawĩra keinen Stein auf dem anderen zu lassen.
„Du hast mir gesagt, dieser Hexenmeister würde sich nur mit Krankheiten befassen. Wie sollen wir ihn dann in die Polizeiarbeit einbinden?“, fragte Sikiokuu skeptisch, aber auch neugierig.
„Geld und Macht“, antwortete John Kaniũrũ. „Niemand ist abgeneigt, mit Geld und Macht zu verkehren. Allein Ihr Titel, Mr. Minister, und Ihre tiefen Taschen werden ausreichen, dass sich der Hexenmeister geehrt und erhöht fühlt, uns Nyawĩra ohne Protest auszuliefern. Ich habe Ihnen ja berichtet, sein Spiegel hat mehr Macht als …“
„In Ordnung“, sagte Sikiokuu entschieden. „Darüber reden wir später. Es gibt jetzt einen Job zu erledigen, und ich wünsche, dass er schnell ausgeführt wird. Ich möchte, dass du auf der Stelle zu diesem Herrn der Krähen gehst. Übermittle ihm meine Grüße und sag ihm in meinem Namen, dass wir jeden Preis akzeptieren, den er verlangt, um Nyawĩra ausfindig zu machen.“
Kaniũrũ war kurz davor, den Auftrag anzunehmen, erinnerte sich aber ein weiteres Mal an die Warnung des Herrn der Krähen. Wie würde der Zauberer aufnehmen, was Sikiokuu ihm soeben aufgetragen hatte? Wären der Auftrag und seine Rückkehr nicht der endgültige Beweis für den Herrn der Krähen, dass er seinen Schwur gebrochen hatte? Kaniũrũ fühlte sich zudem nicht wohl, über seine Begegnung mit dem Herrn der Krähen gelogen zu haben, indem er behauptet hatte, davongejagt worden zu sein und nie mehr zurückkommen zu dürfen. Was, wenn sich Sikiokuu später daran erinnerte und beginnen würde, Kaniũrũs Ehrlichkeit in anderen Bereichen in Frage zu stellen?
„Ich glaube, dass es keine gute Idee ist, wenn ich mich dort noch mal blicken lasse. Er hat mir untersagt, je wieder bei ihm aufzutauchen, und ich bin ein schlechter Lügner, Mr. Minister. Ich hasse es zu lügen und würde auch gar nicht wissen, wie ich mich herauswinden soll. Ich denke, es wäre besser, wenn Sie ihn hierher einladen …“
„Ein Hexenmeister in meinem Büro? Niemals!“, erwiderte Sikiokuu ziemlich aufgebracht.
„Ich vermute“, fuhr Kaniũrũ fort, „er würde sich von Ihrer Gegenwart so geehrt fühlen, dass er noch nicht einmal einen Lohn verlangen würde.“
Sikiokuu schwieg und dachte über Kaniũrũs Vorschlag nach. Er fragte sich, ob dieser Kerl womöglich das Gerücht in die Welt setzen würde, er, der Minister, habe einen Hexendoktor in sein Büro, in das Büro des Herrschers, eingeladen. Nein, Kaniũrũ durfte nicht erfahren, wie er als Minister weiter mit dem Herrn der Krähen verfuhr.
„John. Das war gute Arbeit, und ich werde deine Ergebenheit niemals vergessen. Du warst eine große Hilfe, und ich schätze sehr, dass du mich nicht angelogen hast. Den Rest kannst du einfach mir überlassen. Ich werde überlegen, wie wir das am besten handhaben. Es ist gefährlich, Politik und Hexerei zu vermischen. Ich möchte, dass du alles vergisst, was ich über den Herrn der Krähen und seine mögliche Rolle bei der Jagd nach Nyawĩra und anderen Dissidenten aus der Bewegung für die Stimme des Volkes gesagt habe.“
Niemand hätte über diesen Ausgang glücklicher sein können als Kaniũrũ. Er mochte zwar ein wenig geschwindelt haben, aber er hatte sein Wort nicht gebrochen. Und Sikiokuu hatte die Idee nicht von vornherein abgelehnt. Wenn etwas schiefging und der Zauberer es nicht schaffte, konnte der Minister ihn nicht dafür verantwortlich machen. Und wenn alles gut ging und Nyawĩra … wer wusste das schon? Als er ging, pfiff er vergnügt vor sich hin und genoss es, von Sikiokuu fast als Gleichgestellter behandelt und sogar wie einen Bruder umarmt worden zu sein.
Sikiokuu führte indessen in seinem Büro ein langes Gespräch mit seinen Vertrauten Njoya und Kahiga.
„Dank eures Videos und eures mustergültigen Verhörs. Aber ich will, dass ihr vorsichtig vorgeht. Tragt Zivil und erwähnt auf keinen Fall meinen Namen“, trug Sikiokuu seinen treuen Abgesandten an den Schrein des Herrn der Krähen auf.