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Es war fast fünf, und weil Kamĩtĩ befürchtete, das Büro könnte schließen, bevor er dieses Geschenk des Himmels angenommen hatte, trat er ein, ohne anzuklopfen.
Die Sekretärin, die ein Buch las, während sie auf den Feierabend wartete, sah ihn nicht hereinkommen, schien seine Gegenwart aber zu spüren und hob den Kopf. Ihre Blicke trafen sich. Kamĩtĩ fühlte etwas, das er in keinem der anderen bisher besuchten Büros empfunden hatte. Der Gestank, der ihn auf den Straßen von Eldares verfolgte, war verschwunden und durch einen intensiveren, einen frischen Geruch ersetzt worden. Er ähnelte dem Duft von Blumen, allerdings gab es in diesem Büro keine Blumen.
„Was wünschen Sie?“, fragte die Sekretärin freundlich und markierte die Seite im Buch, auf der sie sich gerade befand.
„Ich würde gern den Chef sprechen. Den Unternehmer.“
„Tajirika? Titus Tajirika?“
„Wie immer er heißt.“
„Haben Sie einen Termin?“
„Nein.“
„Dann können Sie nicht zu ihm.“
„Ich muss ihn aber sprechen, bitte.“
„Junger Mann, wollen Sie, dass ich meinen Job verliere?“, lachte sie. „Ich habe diese Stelle erst vor ein paar Monaten bekommen“, ergänzte sie, schlug das Buch zu und legte es auf den Tisch.
Das Auge wandert, wohin es will, sagt ein Sprichwort, und Kamĩtĩs Augen wanderten zum Titel des Buches: „Shetani Msalabani“. Was war das für eine Sekretärin, die sich die Zeit nicht mit Nägelfeilen vertrieb oder in billige Liebesromane vertieft war? Ihre Stimme klang obendrein sanft.
Jahrelang war Kamĩtĩ auf der Suche nach Arbeit die Straßen von Eldares auf und ab gezogen. Er war afrikanischen, asiatischen und europäischen Firmenbossen begegnet, die allesamt dazu neigten, in schwarzen Aburĩriern potentielle Diebe zu sehen. Oft war er beleidigt worden, und einmal hatten Sicherheitskräfte sogar Hunde auf ihn gehetzt. Er war auch den verschiedensten Sekretärinnen begegnet, von denen einige zwar freundlich zu ihm gewesen waren, viele ihn jedoch angeschnauzt hatten, als wäre die Suche nach Arbeit ein Verbrechen. Doch die Sekretärin, der er jetzt gegenüberstand, schien sich anders zu verhalten, obwohl er nicht genau sagen konnte, worin der Unterschied lag.
„Madam, wenn ich Ihnen meine Geschichte erzählen würde, wäre Ihnen klar, warum ich Ihren Chef sprechen muss. Im Augenblick würde ich sogar Toiletten putzen.“
„Gibt es in Eldares überhaupt noch Toiletten?“, fragte sie etwas irritiert.
„Na ja, Latrinen.“
„Und da die Scheiße rausholen? Und sie anschließend reinigen?“, fragte sie.
„Ich nehme jede Arbeit an.“
Die Sekretärin musterte Kamĩtĩ neugierig. Er hatte dunkle Haut, war groß und schlank und hielt eine Tasche in der Hand. Der graue Anzug, den er trug, musste gut ausgesehen haben, als er neu war, hatte vielleicht auch eine ganze Menge gekostet, jetzt aber war er abgetragen und hatte Flicken an den Ellbogen.
„Verstehe. Wenn das so ist, würde ich vorschlagen, dass Sie morgen wiederkommen. Es ist jetzt fünf Uhr. Mein Chef wird jeden Augenblick gehen. Ich wäre schon längst weg, wenn er mich nicht gebeten hätte, noch eine Weile zu bleiben. Sie haben also Glück. Ich will mal sehen, welche Termine er morgen hat.“
„Bitte, lassen Sie mich zu ihm – er wird es verstehen, wenn ich ihm meine Geschichte erzähle.“
„Wissen Sie …“ Sie zögerte, beugte sich leicht nach vorn und senkte die Stimme, als wollte sie ihm ein Geheimnis verraten. „Mein Chef ist ein sehr wichtiges Mitglied von Marching to Heaven und wird sich gleich auf den Weg zu einem Abendempfang zu Ehren der GB-Delegation machen.“
„GB? Großbritannien?“, fragte Kamĩtĩ etwas verwirrt. Was erzählte sie ihm da und was hatte das Abendessen damit zu tun, ihm einen Termin zu geben?
„Nein, nicht Großbritannien. Global Bank!“
In diesem Augenblick tauchte Tajirika aus dem angrenzenden Zimmer auf. Betont auffällig verstaute er eine Pistole in seiner Jackentasche und machte dem forschen Eindringling damit deutlich, dass er bewaffnet war.
Kamĩtĩ wurde überwältigt von einem durchdringenden Gestank, der ihm in die Nase stieg und sekundenlang den Atem nahm. Dennoch hielt er sich aufrecht und strengte sich an, nicht auf den fauligen Geruch zu reagieren, während er den Chef musterte. Tajirikas Bauch war ein wenig zu imposant und sein dunkler Anzug ein wenig zu knapp. Der eng anliegende Handschuh an seiner Rechten passte farblich zu seiner Haut und umfasste einen kleinen Stab, eine Kopie des Herrscherstabs, den er beim Sprechen fortwährend in die Handfläche der Linken klatschen ließ, um zu betonen, was er sagte.
Tajirika blickte von Kamĩtĩ zur Sekretärin, als wollte er fragen: Von welchem Misthaufen hast du den denn geholt?
„Der Herr möchte Sie sprechen“, reagierte die Sekretärin.
Tajirika betrachtete Kamĩtĩ noch einmal. Aber als der etwas sagen wollte, kam ihm Tajirika zuvor.
„Haben Sie nicht gehört, was meine Sekretärin gesagt hat? Ich muss los, die Delegation der GB begrüßen. Verstehen Sie? Die Global Bank, die Bank für die ganze Welt. Ich habe eine persönliche Einladung eigenhändig vom Minister bekommen, einem sehr guten Freund von mir, und …“
„Arbeit. Alles, was ich suche, ist Arbeit“, stotterte Kamĩtĩ.
„Was? Um diese Zeit?“, fragte Tajirika gereizt, weil Kamĩtĩ ihn unterbrochen hatte, gerade als er anfing, sich für sich selbst zu begeistern.
„Ich war schon bei mehreren anderen Firmen“, erklärte Kamĩtĩ.
„Und nun glauben Sie, dass der Besitzer dieser Räumlichkeiten alle Zeit der Welt hat?“
„Ich wollte nur sagen, dass ich den ganzen Tag auf den Beinen war“, versuchte Kamĩtĩ ihn zu besänftigen.
„An anderen Tagen sind Sie wohl mit einem Mercedes von Firma zu Firma gefahren?“
Kamĩtĩ schluckte die Beleidigung und hoffte, der Chef würde Mitleid haben und ihm eine Unterredung gewähren.
„Ein Gespräch. Ich möchte doch nur ein Vorstellungsgespräch.“
Plötzlich hatte Tajirika eine Idee. Seine Backen plusterten sich ein wenig auf, als müsste er ein Lachen unterdrücken; er lachte aber nicht. Er setzte sich auf die Tischkante, den rechten Fuß auf dem Boden, den linken ein paar Zentimeter in der Luft. Seinen Stab hielt er jetzt mit beiden Händen.
Die Sekretärin war völlig gefesselt von dem, was sich vor ihren Augen abspielte. Dieser Mann, wer auch immer er war, musste über geheime Kräfte verfügen, dachte sie. Wie sonst konnte es ihm gelingen, so schnell das Herz ihres Chefs zu erweichen?
„Welche Art von Arbeit suchen Sie denn?“
„Welche auch immer verfügbar ist“, antwortete Kamĩtĩ hastig und umklammerte seine Tasche noch fester. Vielleicht war ihm ja heute Morgen als gutes Omen ein Vogel begegnet. Das war das Angenehmste, wenn man die Nacht im Freien verbrachte. Man wurde auf jeden Fall von Vögeln geweckt, und ob sie nun Glück oder Unglück brachten, sie weckten einen zumindestens mit Gesang.
„Was für einen Abschluss haben Sie?“
„BA, in Ökonomie. Master in Business Management, MBA.“ Er fuhr mit der Hand in die Manteltasche, als suchte er etwas. „Tut mir leid, ich habe keine Visitenkarte.“
Tajirika und die Sekretärin schauten mit lebhaftem Interesse und Neugier zu Kamĩtĩ hinüber. Allerdings beschäftigten die beiden völlig unterschiedliche Gedanken. Die Sekretärin erinnerte sich an ihren eigenen Schmerz, ihre Probleme und ihr ängstliches Bestreben zu gefallen. Tajirika hingegen dachte, dass der Mann log, was seine Universitätsabschlüsse und Visitenkarten, betraf. Kamĩtĩ spürte die Skepsis und beeilte sich, dem Chef seine Zertifikate zu übergeben, bevor der seine Meinung änderte. Tajirika schob den Stab unter die linke Achsel, um mit der behandschuhten Rechten die Papiere entgegenzunehmen. Er überflog sie und nickte, als wäre er zufrieden.
„Indien?“
„Oh, ja. Indien bringt heute einige der hervorragendsten Computerspezialisten der Welt hervor. Im Silicon Valley in Nordkalifornien in Amerika wimmelt es nur so von jungen Genies aus Indien und Pakistan.“
„Und wie sind Sie mit ihrem Masala-Curry und dem Chili zurechtgekommen?“
„Mit dem Essen ist es überall gleich“, antwortete Kamĩtĩ. „Es ist eine Frage der Gewöhnung. Außerdem ist unsere Küche in Aburĩria von der indischen Küche beeinflusst.“
„Ach, das hätte ich beinahe vergessen, natürlich – wir haben ja auch unsere Inder hier, in manchen Straßen riecht es nur so nach Knoblauch und Curry“, meinte Tajirika, als spräche er mit sich selbst.
Bei dem Gedanken an Essen wurde Kamĩtĩ leicht schwindlig. Ihm hätte jetzt ein winziger Bissen genügt, sogar vom schärfsten Chili. Doch er beherrschte sich und fügte hinzu: „Wir sollten nicht vergessen, dass Indien nicht nur Curry und Knoblauch bedeutet, sondern dass Indien und Pakistan Atommächte sind. Beide haben zum Erstaunen des Westens erfolgreich Atombomben getestet. In Indien werden viele Computerchips hergestellt. Und es gibt auf der Welt nur wenige Universitäten, an denen keine indischen Professoren lehren – und zwar solche, die auch an indischen Schulen und Universitäten ausgebildet wurden. Der Inder ist nicht nur dukawallah und sonst nichts, genauso wenig, wie die Afrikaner nicht nur Schuhputzer sind.“
„Und haben Sie dort gelernt, ein richtiges Curry zu kochen?“, fragte Tajirika, dem nicht auffiel, wie sehr er Kamĩtĩ mit seinem Gerede über Essen folterte. „Hier lassen sie uns ja nicht in ihre Häuser.“
„Nun ja, zum Überleben reicht’s“, meinte Kamĩtĩ unbestimmt und versuchte das Thema zu wechseln.
„Mhm! Sie sind also hoch qualifiziert?“, murmelte Tajirika und prüfte die Zertifikate gründlich.
„Ich möchte nur eine Chance“, sagte Kamĩtĩ bescheiden, obwohl er nicht ungern hörte, dass seine Leistungen anerkannt wurden.
„Sie müssen das Kamasutra von vorn bis hinten gelesen haben?“
„Was ist das?“, fragte Kamĩtĩ ehrlich verwundert, weil er das alte Handbuch der körperlichen Liebe nicht kannte.
„Und Sie haben keine Gelegenheit ausgelassen, es in der Praxis auszuprobieren?“, fuhr Tajirika fort und hob den Blick von den Unterlagen.
Er schaute zu seiner Sekretärin, als wäre ihm gerade bewusst geworden, in ihrer Gegenwart etwas Unschickliches gesagt zu haben. Doch der Versuch einer Entschuldigung geriet wenig überzeugend und schien eher auszudrücken, wie gern er noch mehr gefragt hätte, wäre sie nicht zugegen gewesen.
Tajirika warf noch einen Blick zu seiner Sekretärin und lachte unsicher. Er konnte sie noch nicht richtig einschätzen und spürte ihr Urteil, obwohl sie schwieg. Er ließ das Thema Kamasutra fallen und widmete sich wieder den Zertifikaten.
„Indien? Madras?“, fuhr Tajirika fort, als wäre er tatsächlich an den Studienleistungen seines Gegenübers interessiert. „Tamil Nadu? Was ist das, etwa noch ein indisches Curry?“
„Nein“, antwortete Kamĩtĩ, der nicht wusste, ob er lachen sollte oder nicht, und begann geduldig zu erklären. „Indien ist in zahlreiche Regionen unterteilt. Genau wie Aburĩria mit seinen verschiedenen Provinzen. Tamil Nadu ist der Name eines Staates in Südostindien. Kerala ist auch ein Staat im Süden, liegt aber weiter westlich. Beide haben eine gemeinsame Grenze. Tamil Nadu grenzt im Norden an zwei weitere Staaten: Karnataka und Andhra Pradesh. ,Pradesh‘ bedeutet ,Provinz‘. Aber in Wahrheit sind die indischen Provinzen groß wie Länder. Madras – ich glaube aber, dass sie es mittlerweile anders nennen – Chennai, ja, oder so ähnlich – Madras war …“
„Ich hatte Sie gebeten, mir über ihre Qualifikationen zu berichten, junger Mann, und Sie halten mir stattdessen einen Vortrag über die Geographie Indiens?“
„Entschuldigen Sie bitte“, sagte Kamĩtĩ. „Geographie und Geschichte Indiens sind sehr reichhaltig.“
„Wie das Schwarze Loch von Kalkutta?“, warf Tajirika mit selbstzufriedenem Grinsen ein. „Das ist das Einzige, was ich von der Geschichte Indiens weiß. Ehrlich gesagt, mehr will ich auch nicht wissen. Und wenn man mich fragen würde, was man mit den Indern in Aburĩria machen soll, würde ich empfehlen, sie allesamt in ein modernes Schwarzes Loch von Kalkutta zu werfen. Immer wenn ein Schwarzer in Aburĩria versucht, etwas aus seinem Leben zu machen, steht ihm ein Inder im Weg. Und wenn der sich mit einem Schwarzen abgibt, hagelt es nur Beleidigungen. Sie hegen keinerlei Achtung für die Leute, auf deren Boden sie zu Wohlstand gelangt sind. Und was machen sie mit ihrem Geld? Schaffen es nach Indien und Pakistan und neuerdings auch noch nach Bangladesh. Keine Spur von Loyalität Aburĩria gegenüber. Einige haben sich sogar geweigert, unsere Staatsbürgerschaft anzunehmen. Sie ziehen es vor, Briten zu bleiben, Engländer, um genau zu sein. Auch die anderen mit ihrer doppelten Staatsbürgerschaft sind immer auf dem Sprung nach draußen, sollte in Aburĩria einmal etwas schieflaufen. Die Inder sollten dankbar sein für das, was sie haben, und dafür, einen Herrscher zu haben wie den unseren.“
„Aber schaffen nicht auch einige schwarze Aburĩrier ihr Geld auf Schweizer Konten?“, meinte Kamĩtĩ. „Wo ist der Unterschied?“
„Warum verteidigen Sie die Inder?“
„Ich sage nur, dass es offensichtlich in Indien genauso wie in Aburĩria und in ganz Afrika habgierige Menschen gibt. Und gleichzeitig gibt es solche, die sich sorgen und gegen alles kämpfen, was den Menschen Leid zufügt. Ich bin der Meinung, dass es eine Menge Dinge gibt, die wir von Indien und anderen asiatischen Ländern lernen können, genauso wie sie von uns lernen können. Wir in Aburĩria sollten mehr als andere unsere Beziehungen zu Indien verstärken, weil viele unserer Bürger indischer Abstammung sind …“
„Sie wagen es, die Inder hier Bürger zu nennen? Aburĩrische Staatsbürger?“
„Warum nicht?“ Kamĩtĩ glaubte, sein zukünftiger Chef würde prüfen, ob er sich gegenüber Kunden behaupten könne, und fügte, an dessen pan-afrikanistische Gefühle appellierend, hinzu, als würde er ihm ein Geheimnis verraten: „Wissen Sie, manche glauben, dass einige Inder in Wahrheit afrikanischer Abstammung sind – beispielsweise die Siddis. Die Dravider, die Telugu sprechen, sehen aus, als kämen sie aus Äthiopien oder Ägypten. Die Historiker berichten von einem afrikanischen General namens Malik Amber, der …“
„… in Indien herrschte?“, ergänzte Tajirika den Satz spöttisch.
„Ja“, sagte Kamĩtĩ begeistert, „wenn auch nicht in ganz Indien. Wissen Sie, so um das sechzehnte Jahrhundert herum war Indien kein …“
„Sie haben also auch die hohe Kunst studiert, Lügen zu verbreiten?“, fiel ihm Tajirika ins Wort, brach in schallendes Gelächter aus und zwinkerte der Sekretärin zu, als wollte er sagen: Sie haben es mit eigenen Ohren gehört. „Oder bauschen Sie ihre Märchen nur noch ein wenig auf?“
„Ich lüge nicht. Das ist nur eine Hypothese“, sagte Kamĩtĩ und versuchte, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. „Auch wenn wir Fragen der Abstammung und Staatsbürgerschaft beiseite lassen, bleibt doch die Rolle, die Indien und die Inder im Kampf für die Unabhängigkeit Afrikas spielten. Eine Reihe von ihnen schloss sich den Afrikanern an, um den Kolonialismus zu beseitigen. Und Mahatma Gandhi – ist er nicht erst nach fünfzehn Jahren antikolonialen Kampfs in Südafrika nach Indien zurückgekehrt, um dort Satyagraha und Ahimsa gegen die britische Herrschaft zu organisieren? Finden Sie nicht auch, dass es etwas von Schönheit hat, wie dieser Mann in Leinen und Sandalen, mit nichts als einem Gehstock und seinem Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit bewaffnet, gegen die Macht des britischen Empires anging?“
„Verstehen Sie jetzt, was ich meine?“, fragte Tajirika. „Er entfacht in Südafrika einen Flächenbrand und was macht er dann? Haut ab, wenn es ernst wird und überlässt es anderen, das Feuer zu löschen oder darin zu verbrennen. Junger Mann, man hat Sie in Indien ganz schön mit Propaganda vollgestopft. Also, was haben Sie außer Gandhis Propaganda und Nehrus Machtmonopol noch mitbekommen?“
„Sagen wir es so: Ich habe gelernt, dass es kaum Unterschiede zwischen der politischen Wesensart von Indern und Afrikanern gibt. Einige lieben ihre Geschichte und ihre Hautfarbe und andere hassen beides …“
„Nun fangen Sie schon wieder damit an! Ich frage Sie, was Sie sonst noch in Indien gelernt haben, und Sie antworten, indem Sie mir etwas über Hautfarbe erzählen?“, unterbrach ihn Tajirika streng und verärgert.
Sogar die Sekretärin war von dieser heftigen Reaktion überrascht, fast als hätte er die Bezugnahme auf die Hautfarbe als persönliche Beleidigung empfunden.
Kamĩtĩ, der versucht hatte, seinen zukünftigen Chef mit dem Umfang und der Tiefe seines Wissens zu beeindrucken, war sich jetzt nicht mehr sicher, wohin das Gespräch führen sollte oder was Tajirika wirklich wollte. Jedes Mal, wenn er versuchte, seine Bildung unter Beweis zu stellen, sah er sich kaum verhülltem Hohn und nun auch noch diesem Wutausbruch gegenüber. Was war der Unterschied zwischen Tajirikas Beleidigungen und dem, was der üblen Nachrede nach reiche Inder schwarzen Aburĩriern antaten? Kamĩtĩ wurde klar, dass er sich in seinen Antworten kurz und präzise ausdrücken musste, ohne sich groß über die Folgen Gedanken zu machen. Gleichzeitig wollte er hier nicht ohne Arbeit weggehen und hatte deshalb das Bedürfnis, alles zur Sprache zu bringen, was er gelernt hatte, damit nicht der Eindruck entstand, seine Bildung sei unzulänglich. Man sprach in Aburĩria ohnehin eher abfällig über die Ausbildung in Indien. Manche behaupteten sogar, dass man die indischen Abschlüsse auf dem Markt kaufen konnte, und er wollte nicht den Verdacht aufkommen lassen, er selbst sei irgendwann in Chennai die lange Mount Road bis nach George Town hineingelaufen, um dort den billigsten Satz von Abschlusszeugnissen zu erfeilschen.
„Also“, fuhr Kamĩtĩ mit gezwungener Begeisterung fort, „wie ich schon sagte, man kann in Indien eine Menge lernen. Ich habe noch ein Wahlfach belegt, Phytotherapie, die Wissenschaft von der Heilkraft der Pflanzen. Ich kann Ihnen versichern, Sir, dass es in Bezug auf Pflanzen, Wurzeln, Blätter oder Rinden nichts gibt, das ich nicht genauer untersucht habe. Wenn ich das Geld dazu hätte, würde ich die Pflanzenvielfalt Aburĩrias erforschen und ihre heilenden Kräfte dokumentieren, aber selbst ohne wissenschaftliche Forschung …“
„Hat man Sie deshalb Kamĩtĩ getauft, Mr. Woods?“, unterbrach ihn Tajirika lachend.
„Meine Mutter hat mir erzählt, dass ich schon als kleines Kind großes Interesse an Pflanzen und allem Lebendigen gezeigt habe.“
„Übrigens“, fragte Tajirika, „in welcher Sprache haben Sie denn Ihre Heilpflanzenstudien betrieben? In Hindi?“
„Nein, nein“, antwortete Kamĩtĩ schnell. „Um ehrlich zu sein, ich wollte Hindi lernen, wirklich – es ist schließlich die am weitesten verbreitete Sprache im Land – aber ich habe nicht sehr viel mitbekommen, weil unsere Lehrveranstaltungen in Englisch abliefen. Ein Ergebnis der britischen Herrschaft, genau wie hier. In Indien gibt es außer Hindi noch viele andere Sprachen: Gujarati, Bengali, Telugu, Urdu, Malayalam und zahllose weitere. In Madras, wo ich aufs College gegangen bin, spricht man Tamil. Ein paar Brocken Tamil kriege ich zusammen, zum Beispiel ‚Zeigen Sie mir bitte den Weg nach …‘ oder ‚Geben Sie mir bitte einen Schluck Wasser …‘“
„Um Wasser betteln! Jetzt haben Sie zum ersten Mal eine Wahrheit ausgesprochen, die sich nicht leugnen lässt. Ich weiß, dass die Straßen in Indien voller Bettler sind, manche haben sogar einen Doktorhut in der Kunst des Bettelns. Es ist klar, dass Sie da Sätze aufschnappen, die mit dem Betteln zu tun haben.“
„Ach … na ja … Bettler … gibt es … in Aburĩria … auch“, stotterte Kamĩtĩ ein wenig verwirrt.
„Es gibt Bettler in unseren Straßen, das stimmt, aber so viele wie in Indien sind es bei weitem nicht“, sagte Tajirika in einem Ton, der deutlich machte, dass sich die Unterhaltung ihrem Ende näherte. „Also, junger Mann. Wie war noch Ihr Name? Mir kommt es vor, als wüssten Sie über Geschichte besser Bescheid als über Holz. Was ich auch frage, immer antworten Sie mir mit einem Geschichtsvortrag.“
Kamĩtĩ wusste nicht recht, ob das als Kompliment oder höhnisch gemeint war.
„Man kann sich nur Mühe geben“, antwortete er unbestimmt.
„Gut“, sagte Tajirika, während er aufstand. „Sie haben in diesem Vorstellungsgespräch Ihr Bestes gegeben. Das gefällt mir. Ich wollte mich vergewissern, dass Sie in der englischen Sprache bewandert sind, bevor wir zum eigentlichen Test kommen. Folgen Sie mir. Ich werde den Test selber durchführen, um sicherzugehen, dass Sie auch alles verstanden haben.“
Kamĩtĩ freute sich. Ihm war klar, dass dieser Mann nicht so viele Fragen stellen würde, wenn er ihm nicht eine Chance geben wollte. Und das war es ja, worum es ihm eigentlich ging: eine Chance, um zu zeigen, wozu er mit seinen Händen und seinem Verstand in der Lage war. Er packte seine Tasche jetzt noch fester. Das war heute wirklich sein Tag. In all den Jahren, in denen er einer Arbeit nachgejagt war, hatte kein Vorstellungsgespräch länger als ein paar Minuten gedauert. Wie anders war dieser Chef im Vergleich zu all den anderen, die ihm nicht erlaubt hatten, seine Bedürfnisse zu äußern! Er hatte seine Zeit geopfert, um sorgfältig Kamĩtĩs Bildungshintergrund auszuloten. Das hier sollte sein erstes echtes Vorstellungsgespräch werden, und er war entschlossen, alles richtig zu machen und alle Fragen eindeutig, bestimmt und vollständig zu beantworten. Und auch wenn ein Sprichwort sagt, man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, konnte Kamĩtĩ nicht anders, als sich die Zukunft vorzustellen. Wenn ich diese Stelle kriege, dann … wenn ich meine neue Arbeit anfange, dann … Doch plötzlich hörte er auf, vor sich hin zu träumen. Denn statt ihn in sein Büro zu führen, ging Tajirika durch die Eingangstür nach draußen.
Sogar die Sekretärin war verblüfft: Wohin ging Tajirika mit dem jungen Mann? Da sie noch neu war, fragte sie sich, ob er ihn in ein anderes Büro brachte, von dem sie nichts wusste. Kamĩtĩ dachte Ähnliches und versuchte seine Hoffnung aufrechtzuerhalten: Vielleicht hatte Tajirika ihn bereits eingestellt und brachte ihn jetzt an seinen Arbeitsplatz, damit er sofort anfing. Kamĩtĩ klopfte sich auf die Schulter. Es war richtig, ihm all die Einzelheiten über die Ausbildung erzählt zu haben. Es war richtig, ruhig geblieben zu sein und ausführlich geantwortet zu haben. Es stimmte, dass Geduld nicht nur das Tor zum Wissen war, sondern auch zu Reichtum führte oder zumindest zu einer Arbeitstelle.
Die Sekretärin stellte sich an die Tür, um zu sehen, was als Nächstes folgte. Ihr Herz stockte, als sie die beiden beim Schild an der Straße stehen bleiben sah. Leider konnte sie von ihrem Standort aus nicht hören, worüber sie sprachen, und konzentrierte sich deshalb auf ihre Gesten.
„Sie sagten, dass Sie Englisch lesen und schreiben können?“, fragte Tajirika Kamĩtĩ.
„Yes. Yes! One of my best subjects!“, antwortete Kamĩtĩ. „Bis heute hat die University of Madras viele englische Traditionen bewahrt. Die Stadt selbst wurde 1639 von Angestellten der British East India Company gegründet. Einer der ersten Gouverneure der Region, er hieß Elihu Yale oder so ähnlich, spendete später sein Vermögen zur Gründung der Yale University, einer der Eliteuniversitäten in den Staaten. Sie sehen also …“
„Wir sind hier aber nicht auf dem Gelände der British East India Company, sondern bei Eldares Modern Construction and Real Estate, und Ihr Elihu Yale ist nicht der Gouverneur. Hier bin ich der Chef, und mein Interesse an Yale beschränkt sich auf Schlösser und Schlüssel der Firma Yale. Und noch eins, junger Mann: Wir stehen jetzt am Anfang des neuen Jahrtausends, des dritten Jahrtausends nach Christi Geburt, und nicht mehr in der Mitte des letzten. Oder wollen Sie mir allen Ernstes weismachen, dass man Ihnen an der Madras University das Englisch des siebzehnten Jahrhunderts beigebracht hat?“
„Oh, no no!“, antwortete Kamĩtĩ, im Glauben, der andere würde ihn noch immer prüfen und ihm wieder eine Falle stellen. „Modern English. The King and Queen’s English.“
„Das ist gut, weil ich Sie nämlich in modernem Englisch prüfen möchte!“
„Ich bin bereit“, sagte Kamĩtĩ, entschlossen, selbst den letzten Brocken Englisch, den er in Aburĩria, Indien und aus Büchern gelernt hatte, zum Einsatz zu bringen.
„Es ist ganz einfach. Ich möchte, dass Sie mir laut vorlesen, was auf diesem Schild steht.“
Noch bevor er die Worte aussprach, war Kamĩtĩ klar, dass Tajirika mit ihm spielte. Dennoch hörte er sich laut vorlesen: „No Vacancy: For Jobs Come Tomorrow!“
„Na also! Sie haben es völlig richtig vorgelesen!“, lachte Tajirika triumphierend. „Und nun sagen Sie mir mal, was Sie daran nicht verstehen? Oder brauchen Sie einen Hindi-Dolmetscher? In diesem Unternehmen haben wir keinen Bedarf an Ihrer Heilpflanzenkunde. Hier haben Sie Ihre indischen Zeugnisse zurück. Dort drüben ist die Hauptstraße. Und jetzt entschuldigen Sie mich, denn ich habe eine wichtige Verabredung im Paradise.“