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„Was?“, brach es aus Sikiokuu hervor, als Kaniũrũ am nächsten Tag anrief, um ihm über die Ereignisse am Red River zu berichten.

„Wie ich Ihnen gesagt habe. Das sind keine wirklichen Frauen. Sie sind Schatten aus einem Spiegel – reine Spiegelbilder. Deswegen sieht man sie und im nächsten Augenblick sind sie wieder weg. Wie die Tänzerinnen bei der Eröffnungsfeier meines Büros. Von denen habe ich auch nie wieder etwas gesehen oder gehört.“

„Und das hat Vinjinia dir erzählt? Diese Schatten – wer erschafft sie denn?“

„Der Herr der Krähen. Mit seinem Spiegel. So etwas wie ein Hologramm. Was man jetzt virtuelle Realität nennt.“

„Moment mal. Diese Frauen, die Männer verprügeln, die Frauen dieses Volksgerichts … Willst du damit sagen, dass der Herr der Krähen sie als Hologramme oder virtuelle Realität ausgeschickt hat, um Tajirika eine echte Tracht Prügel zu verpassen?“, fragte Sikiokuu mit einem Anflug von Sarkasmus. „Das hat sie dir erzählt?“

„Ja.“

„Und du weißt, dass Tajirika seine Frau verprügelt hat, nachdem er aus der Polizeihaft entlassen worden war, und nicht davor?“

„Ja.“

„Und du weißt auch, dass er seine Prügel erst bekam, nachdem er seine Frau geschlagen hatte?“

„Ja, von diesen Frauen, ganz klar. Mit geballten Fäusten, Hieben und Ohrfeigen“, fügte Kaniũrũ lachend hinzu, als wäre er dabei gewesen. „Wirklich ein mächtiger Zauber.“

„Das ist überhaupt nicht lustig.“

„Ich weiß, und deshalb brauche ich eine Einheit Zivilpolizisten, um den Schrein zu stürmen und den Herrn der Krähen zu verhaften, zusammen mit allen, die für ihn arbeiten oder bei ihm Heilung suchen. Danach werden die Polizisten den Schrein niederbrennen. Hexerei hasst das Feuer wie schlechte Geschäfte. Und wir müssen schnell handeln, völlig überraschend, noch bevor der Magier reagieren kann.“

„Stopp. Nichts überstürzen. Eins nach dem anderen.“

„Ja, Minister.“

„Zu Vinjinia: Hat sie dir gestanden, selbst im Schrein gewesen zu sein?“

„Ja! Darum habe ich ihr auch geglaubt. Sie hörte sich nicht an, als ob sie lügen würde. Und sie hat offen zugegeben, dass sie sich dort Hilfe holen wollte. Das Eingeständnis ist genau aus diesem Grund so bedeutsam, weil viele Leute unseres Standes wie Sie und ich auch vielleicht nachts zu einem Hexenmeister gehen, das jedoch niemals zugeben würden, nicht einmal, wenn man sie Tag und Nacht folterte.“

Es entstand eine Pause, als würden beide darüber nachdenken, was gerade gesagt worden war, während sie sich gleichzeitig an ihre jeweiligen Begegnungen mit dem Herrn der Krähen erinnerten. Auch Kaniũrũ hatte gelogen, was seinen Besuch beim Zauberer anging. Und Sikiokuu fragte sich: Weiß Kaniũrũ irgendetwas von meinem Treffen mit diesem Herrn der Krähen in meinem Büro? Wer könnte ihm davon erzählt haben?

„Hör mal. Wir reden hier nicht über Arme oder Reiche, diesen oder jenen Stand. Wir sind schließlich keine Kommunisten. Ich will nur eins wissen: Hat Vinjinia dir gesagt, dass sie den Herrn der Krähen persönlich getroffen hat?“

„Ja.“

„Du bist dir ganz sicher – ich meine, sie hat dir wirklich gesagt, dass sie ihn mit eigenen Augen gesehen hat?“

„Ja.“

„John, du bist doch richtig hochgebildet, bist auf der Universität gewesen?“

Kaniũrũ konnte keinerlei Ironie in der Frage ausmachen. Er nahm sie als Kompliment.

„Ja. Und später war ich Dozent“, antwortete Kaniũrũ stolz und versuchte, sein Bildungsniveau aufzupolieren.

„Dann kennst du auch das Sprichwort, man sollte dem Wort einer Frau erst trauen, wenn man eine Nacht darüber geschlafen hat.“

„Ja, deshalb habe ich Ihnen auch nicht sofort davon erzählt. Ich wollte Vinjinias Behauptungen überdenken und sehen, ob ihre Geschichte Lücken hat. Ich habe aber keine gefunden. Ich habe Ihnen, glaube ich, von meiner Vorahnung erzählt, dass hinter den meisten seltsamen Ereignissen, die in diesem Land geschehen, dieser Herr der Krähen steckt. Und wenn ich schamrot werden und ehrlich sein darf, der Mann verfügt über besondere Gaben. Ich verstehe wirklich nicht, warum Sie ihn nicht festgenommen und eingesperrt haben, um ihn zu verhören, als ich erstmals von ihm berichtete. Wenn Sie das getan hätten, wüssten wir nun eine Menge mehr. Mr. Minister, geben Sie mir die Truppe, die ich brauche, und ich werde allen zeigen, wie man diesen Herrn der Krähen in ein frommes Lamm verwandelt.“

„Und was wäre, wenn ich dir sagen würde, dass Vinjinias Geschichte unmöglich stimmen kann, dass der Herr der Krähen nicht dahinterstecken kann, weil er gar nicht da ist?“

Kaniũrũ fühlte sich herabgesetzt, diese Enthüllung demütigte ihn. Sikiokuu hatte mit ihm gespielt. Er war wütend, richtete seine Wut aber auf Vinjinia.

„Wenn ich diese Frau zwischen die Finger …“

„Du rührst sie nicht an“, befahl ihm Sikiokuu. „Ich habe dich beauftragt herauszufinden, wer die Frauen sind, die Tajirika verprügelt haben. Stattdessen entführst du seine Frau. Kaniũrũ, ich muss dich nicht daran erinnern, das ist bereits das zweite Mal, dass wir diese Frau wegen deiner Fehler verhaftet haben. Tajirika hat mich angerufen und ist verständlicherweise außer sich über die Behandlung seiner Frau; selbst ich habe mich geniert wegen meiner lausigen Ausreden. Ich möchte Tajirika nicht weiter verärgern. Ich brauche seine Kooperationsbereitschaft noch bei anderen Dingen.“

Kaniũrũ war nicht gerade erfreut zu hören, dass Tajirika inzwischen einen bedeutsamen Platz in Sikiokuus Machenschaften einnahm. Wieso wechselte dieser Minister ständig die Farben wie ein Chamäleon? Wollte er ihn trotz seiner treuen Dienste fallenlassen? Er kochte vor Wut. Er hatte nicht die geringste Möglichkeit auszusprechen, wie wütend er auf Sikiokuu, Tajirika und vor allem auf Vinjinia war.

Ein paar Sekunden lang rief er sich Vinjinias Stimme im Mondlicht am Ufer des Red River ins Gedächtnis, wie sie bei allem, was ihr heilig war, geschworen hatte, die Wahrheit zu sagen, als sie ihm erzählte, den Herrn der Krähen getroffen zu haben. Er erinnerte sich, wie er sie geprüft hatte, indem er sie aufforderte, den Schrein zu beschreiben. Sie war in der Lage gewesen, ihm Einzelheiten zu schildern, die er ebenfalls kannte.

„Der Herr der Krähen, wo steckt er?“, fragte Kaniũrũ. „Ist er tot oder …“

„Du stellst zu viele Fragen“, schnitt Sikiokuu ihm das Wort ab. Kaniũrũs kritischer Ton zu seinem Umgang mit dem Zauberer gefiel ihm nicht. „Nimm einen guten Rat an, unterlass das in Zukunft. Und dann kannst du auch gleich deinen Glauben an Spiegel und Phantasterei aufgeben. Ich will die Frauen hier haben, nicht ihre Schatten“, sagte Sikiokuu, dann legte er auf.

Herr der Krähen
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