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Tajirika, der Vorsitzende von Marching to Heaven, Besitzer und Geschäftsführer der Eldares Modern Construction and Real Estate und Freund des Außenministers, konnte niemandem zurückrufen. Er hockte den ganzen Tag, das Kinn in die Hände gestützt, vor dem Badezimmerspiegel und starrte ins Leere. Hin und wieder wanderte sein Blick verloren in den Spiegel, ganz sacht, dann murmelte er das Wort „wenn“ und schaute anschließend wieder ins Nichts. Wenn sein Blick länger im Spiegel verweilte, bellte er das Wort mehrmals heraus, und sein Körper zitterte unkontrolliert, bis er die Augen vom Spiegel abwandte und eine nervöse Ruhe erlangte.

In den ersten Tagen des Gebrechens glaubte Vinjinia, der Spiegel sei für den Zustand ihres Mannes verantwortlich. Deshalb lockte sie ihn eines Abends ins Bett, hängte, als er eingeschlafen war, den Spiegel um und hoffte, Tajirikas heftigen „Wenns“ ein Ende zu bereiten.

Am folgenden Morgen war Tajirikas Gesicht die Heiterkeit selbst, als wäre die Krankheit durch den arbeitsfreien Vortag verschwunden. Mit Begeisterung ging er an seine Morgenrituale, ein klarer Hinweis auf seine Absicht, wie üblich ins Büro gehen zu wollen. Vinjinia hoffte, seine Krankheit nicht noch einmal ansprechen zu müssen. Noch eine letzte Hürde, dann wird alles gut, dachte sie, als sie ihn ins Badezimmer gehen sah. Eine Sekunde später schrie Tajirika, wer den Spiegel von der Wand genommen habe. Wie solle er sich ohne Spiegel rasieren? Er beschuldigte die Kinder und drohte ihnen Prügel an, womit er Vinjinia zwang, sich zu ihrer Tat zu bekennen. Sie habe vergessen, ihn wieder hinzuhängen, als sie die Wand gewischt habe, sagte sie. Ihre List hatte versagt, denn als der Spiegel wieder an seinem Platz hing, kehrten die „Wenns“ mit unverminderter Kraft zurück. Wieder war es Vinjinia, die ins Büro ging, während Tajirika zu Hause blieb und erneut den Tag im Bad zubrachte.

Es wurde immer schlimmer. Hilflos musste Vinjinia zusehen, wie sich Tajirika zwischen „wenn“ und „wenn ich bloß“ das Gesicht zerkratzte. Dann zog er sich aus und sprang in die Badewanne, um sich schweigend am ganzen Körper zu kratzen. Er verlor die Sprache, bis auf diese zwei Worte. Wieder hängte sie den Spiegel ab und ließ sich durch nichts dazu bringen, ihn wieder aufzuhängen.

Als er aus der Wanne stieg, schien Tajirika geschockt und verwirrt, den Spiegel nicht mehr an der Wand zu sehen. Weil er aber die Sprache verloren hatte und nur noch „wenn“ und „wenn ich bloß“ stammeln konnte, gestikulierte er nur wild herum. Schließlich durchwühlte er Vinjinias Handtasche und fand einen kleinen Spiegel. Den ganzen Tag hielt er den Spiegel in der Hand, kratzte sich und sprang von Zeit zu Zeit in die Badewanne. Selbst als er an diesem Abend ins Bett ging, hielt er den Spiegel in der Hand wie ein Kind sein Kuscheltier. Als Vinjinia aus dem Büro kam, wartete sie wieder, bis er eingeschlafen war, nahm ihm den Spiegel aus der Hand und versteckte ihn. Am Morgen wies sie die Hausangestellten an, darauf zu achten, dass weder im Haus noch sonst auf dem Anwesen ein Spiegel herumlag. Ohne Spiegel wurde Tajirika zunehmend schwermütiger.

Vinjinia rief Ärzte an, von deren Diskretion sie überzeugt war. Sie erzählte ihnen, wie niedergeschlagen er sei und dass er sich manchmal im Gesicht kratze, unterließ aber jeglichen Hinweis auf Tajirikas Spiegelmanie und seinen Sprachverlust. Sobald ein Arzt vorschlug, ihn in seine Klinik zu bringen, spielte sie den Ernst seines Leidens herunter. Andere sagten frei heraus, per Telefon weder eine Diagnose stellen noch Arznei verschreiben zu können; und dritte empfahlen rezeptfreie Arzneimittel gegen Jucken und Depressionen. Aber die Medikamente halfen nicht.

Was sollte sie machen? Als die Tage vergingen, ohne dass sich Tajirikas Zustand besserte, bekam Vinjinia das Bedürfnis, ihr Geheimnis mit jemandem zu teilen.

„Ich glaube, jemand hat ihn verhext“, sagte sie eines Tages unvermittelt zu Nyawĩra.

Sie arbeiteten jetzt die zweite Woche zusammen. Der Motorradfahrer war gesund und munter wieder aufgetaucht, doch für Vinjinia und Nyawĩra waren die Nachrichten von endlosen Schlangen und motorisiertem Wahnsinn niederschmetternd. Gacirũ und Gacĩgua gingen wieder in die Schule, und Nyawĩra vermisste die Stunden des Geschichtenerzählens.

„Wissen Sie, viele neiden ihm seinen Erfolg“, fuhr Vinjinia fort, „vor allem seine Berufung zum Vorsitzenden von Marching to Heaven. Inzwischen isst er nicht einmal mehr richtig. Wenn Sie ihn sähen, würden Sie ihn kaum wiedererkennen, so hat er abgenommen.“

„Wer sollte ihn denn mit einem bösen Zauber belegen wollen?“, fragte Nyawĩra, neugierig, wen Vinjinia als Feind betrachtete.

„Ich weiß nicht; vielleicht irgendeiner von den sogenannten Geschäftsleuten, die hier aufgetaucht sind, um ihre Aufwartung zu machen. Jetzt kommen sie nicht mehr. Warum? Wahrscheinlich seit genau dem Augenblick, in dem sie erfuhren, dass ihr böses Tun wirkt.“

„Aber woher wollen Sie wissen, dass er verhext ist?“, fragte Nyawĩra, der einfiel, dass Vinjinia eine gläubige Christin war. „Hat er vor oder während seiner Krankheit irgendetwas Ungewöhnliches getan, gegessen oder angezogen?“

Vinjinia erinnerte sich an den Handschuh, den er an der einen Hand trug, was ziemlich seltsam war, weil er ihn niemals ablegte, weder bei Tisch noch im Bett.

„Ja“, antwortete Vinjinia nach kurzem Überlegen, wie weit sie sich Nyawĩra anvertrauen sollte. „Als dieser Irrsinn mit Marching to Heaven anfing, hat sich mein Mann angewöhnt, einen Handschuh an der rechten Hand zu tragen. Er zieht ihn nie aus und wäscht sich auch nicht die Hand.“

„Nehmen Sie ihm den Handschuh weg“, schlug Nyawĩra vor.

In dieser Nacht zog Vinjinia, nachdem sie sich von Tajirikas festem Schlaf überzeugt hatte, den Handschuh von der Hand. Er stank so entsetzlich, dass sie ihn auf den Boden warf. Hatte der Gestank mit der Zauberei zu tun? Was, wenn sie ebenfalls Opfer dieser dunklen Mächte wurde?, dachte sie plötzlich erschrocken. Sie nahm sich vor, jeden Kontakt mit dem Handschuh oder der Hand zu vermeiden. Aber wie konnte sie diesen Mächten erlauben, ihr vorzuschreiben, was sie in ihrem eigenen Haus anfassen durfte und was nicht, einschließlich der Hand ihres Ehemanns? Sie holte ihre Bibel, drückte sie an die Brust und fühlte sich etwas mutiger. Sie untersuchte die Hand. Unter den langen Fingernägeln waren Schmutzränder. Sie dachte daran, die Nägel zu schneiden, die Hand zu waschen und den Handschuh in den Müllsack zu werfen, aber das würde bedeuten, ein Beweismittel zu vernichten. Sie hob den Handschuh vom Boden auf und legte ihn in eine Schublade.

Am nächsten Tag erzählte sie Nyawĩra, sie sei jetzt sicher, dass ihr Mann vom Bösen im Innern des Handschuhs verhext wurde.

„Wieso im Innern des Handschuhs?“ fragte Nyawĩra. „Und warum hat es nicht sofort zugeschlagen, als er den Handschuh anzog?“

„Da haben Sie irgendwie recht“, gab Vinjinia zu. „Die Verhexung muss passiert sein, als sie sich hier im Büro die Hände geschüttelt oder die Umschläge mit dem Geld rübergeschoben haben. Kurz nachdem er das Geld gezählt und mit dem Handschuh berührt hat, ist er krank geworden.“

„Geld? War es viel?“, fragte Nyawĩra; nicht nur, weil sie die Unterhaltung im Gang halten, sondern auch, weil sie die tatsächliche Summe wissen wollte.

„Sie hätten sehen sollen, wie viel!“, antwortete Vinjinia voller Stolz und Furcht und vergewisserte sich, dass die Polizisten, die das Anwesen bewachten, sich nicht in Hörweite befanden. „Alle drei Säcke waren voller Geldscheine, und nicht ein einziger war weniger als einhundert Burĩ.“

„Drei Säcke bis oben hin voll mit Scheinen?“, fragte Nyawĩra theatralisch.

„Das beweist doch, dass sich nicht jeder für ihn und mit ihm freute“, meinte Vinjinia. „Als Übeltäter kommen alle in Frage, die diese Säcke mit Geld gefüllt haben.“

„Klar, verstehe“, sagte Nyawĩra, die von dem Gerede über Hexerei langsam genug hatte. „Was Sie jetzt brauchen, ist ein guter Zauberheiler“, fügte sie hinzu, wohl auch, weil sie die gläubige Christin ein wenig schockieren wollte; eigentlich war sie jedoch über Vinjinias Gleichgültigkeit entsetzt.

„Das einzige Problem besteht darin“, erwiderte Vinjinia nüchtern, „dass ich nicht die geringste Ahnung habe, wo ich einen Zauberheiler auftreiben soll.“

Offensichtlich rechnete sie damit, Nyawĩra sei ebenso ahnungslos wie sie, aber sie irrte sich.

Nyawĩra hatte eine Idee. Warum war sie nicht eher darauf gekommen? Schließlich gab es den Herrn der Krähen!

Die Vorstellung, Tajirika könne ausgerechnet bei einer Person Heilung suchen, die er gedemütigt hatte, amüsierte sie.

„Ich habe gehört“, sagte Nyawĩra, „ein neuer Zauberheiler soll sich in der Stadt niedergelassen haben. Der Herr der Krähen!“

„Wo kann ich ihn finden? Ich meine, wo hat er seinen Schrein?“

„In Santalucia, im Süden.“

„Im Süden von Santalucia?“, schrie Vinjinia mit ungespieltem Entsetzen. „Sie meinen, in den südlichen Slums, wo die ar … armen Menschen …“, stotterte sie ein wenig verwirrt, weil ihr einfiel, dass Nyawĩra in Santalucia wohnte.

Vinjinia schien ehrlich entsetzt von der Vorstellung, in einen Slum gehen zu müssen. Aber je mehr sie an den Gestank des Handschuhs und Tajirikas lange, schmutzverkrustete Fingernägel dachte, desto klarer wurde ihr, ihren Ekel vor solchen Orten bezähmen zu müssen. Die Krankheit ihres Mannes verschlimmerte sich, und sie sah keinen anderen Ausweg, als dem Herrn der Krähen einen Besuch abzustatten.

„Ich bin ein treues Gemeindemitglied der All Saints Cathedral. Ich weiß, was sie dort von mir halten würden, wenn sie den Verdacht hätten oder herausfänden, dass ich mich mit Zauberheilern einlasse“, sagte sie. „Ich möchte nicht exkommuniziert oder wie Maritha und Mariko zum Gegenstand wöchentlicher Geschichten werden. Aber momentan gibt es keinen Ort, den ich nicht für die Heilung meines Mannes aufsuchen würde. Wo finde ich diesen Herrn der Krähen? Und, Nyawĩra, bitte, kein Wort zu irgendjemandem“, flehte Vinjinia.

Herr der Krähen
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