20

Am frühen Abend schickte Sikiokuu Kahiga und Njoya nach dem Herrn der Krähen. Er konnte gerade einen Erfolg verbuchen – warum nicht einen zweiten anstreben? Man muss das Eisen schmieden, solange es heiß ist, dachte er und pfiff zufrieden und erwartungsvoll vor sich hin.

Was dem Herrn der Krähen heftig in die Nase stieg, als er Sikiokuus Büro betrat, war ein durchdringender Geruch nach verwesendem Fleisch. Es erinnerte ihn an Tajirika und seinen Kübel mit Scheiße. Tajirika muss hier gewesen sein, dachte er, daher der Gefängnisgeruch im Raum. Er war ein wenig benommen und versuchte, den Geruch abzuwehren und sich zu beruhigen, indem er sich im Raum umschaute, wobei sein Blick für einen Moment an dem Porträt des Herrschers auf dem Tisch hängenblieb. Warum ein Handtuch neben dem Bild?, wunderte er sich. Dann entdeckte er Flecken auf Augen, Ohren, Nase und Mund des Bildes und einige Sekunden lang hatte er das seltsame Gefühl, als sähe er – oder glaubte zu sehen – eine dickliche, dunkle Flüssigkeit aus ihnen heraussickern. Sikiokuu bemerkte, worauf sein Blick gefallen war.

„Ein wenig einschüchternd, nicht wahr“, sagte Sikiokuu, als er wie nebenbei das Foto in die Hand nahm, es flüchtig ansah und dann liebevoll, fast zärtlich mit dem Handtuch abwischte, bevor er es auf eine Kommode in der Ecke stellte. „Sogar wenn er verreist, lässt er ein Stück seiner Macht zurück, wie man an diesem Bild sehen kann. Eine Art Stigma“, fügte er mit einem Lächeln hinzu, das den Herrn der Krähen und die zwei Begleiter Kahiga und Njoya, die an der Tür stehen geblieben waren, einschloss. „Lasst uns bitte allein“, sagte er zu seinen treuen Leutnants. „Ich möchte mich privat mit meinem – nun ja – Gast unterhalten“, fügte er hinzu und signalisierte dem Herrn der Krähen, sich zu setzen.

Dem Abgang von Njoya und Kahiga folgte ein unbehagliches Schweigen. Die beiden Männer musterten einander. Dann beugte sich Sikiokuu nach vorn, senkte ein wenig die Stimme und bemühte sich um eine gewisse Vertrautheit.

„Es tut mir leid, dass ich Sie warten lassen musste, aber mir ist ein Notfall dazwischengekommen. Ach! Welche Bürden wir Minister tragen müssen! Ihr Ruhm ist der Regierung zu Ohren gekommen. Oder genauer: mir. Ich muss Ihnen etwas gestehen. Als ich den Namen Herr der Krähen hörte, dachte ich an einen alten Mann am Stock, siebzig oder älter, mit einem Fliegenwedel in der Hand und einem Tabaksbeutel um den Hals. Und nun, siehe da! Ein junger Mann im Designeranzug. Ein moderner Hexenmeister? Oder sogar postmodern?“

„Postkolonial“, korrigierte der Herr der Krähen.

„Ein postkolonialer Hexenmeister?“, legte Sikiokuu nach und lachte laut. „Und ein Zauberer mit Sinn für Humor, was? Man hat mir gesagt, es gebe kein Handbuch der Hexerei, das Sie nicht verschlungen haben. Mal unter uns, wissen Sie, was mich am meisten auf Sie aufmerksam gemacht hat? Ihre Vorsicht. Als ich hörte, Sie wollten nicht, dass Ihre Klienten und Nachbarn davon erfahren, Sie könnten Teil einer kriminalistischen Untersuchung werden und unsere Zusammenarbeit mit äußerster Geheimhaltung anzugehen wünschten, lehnte ich mich zurück und sagte mir: Endlich mal einer, der weiß, wie es in der Welt zugeht. Denn in dem Moment, in dem die Nachricht die Runde macht, dass der Herr der Krähen uns hilft, Kriminelle zu fassen, wäre er kaum noch von großem Nutzen für uns, weil mögliche Verdächtige einen weiten Bogen um ihn und seinen Schrein machen würden. Darum habe ich meine Leutnants in Zivil und im Mercedes zu ihnen geschickt. Haben Sie jemals von einem anderen Hexenmeister gehört, der von einem Minister mit solcher Rücksichtnahme behandelt wurde? Alles aus Respekt Ihnen gegenüber. Ich wollte bereits gestern Abend mit Ihnen ins Geschäft kommen, aber leider wurde ich durch wichtige Staatsangelegenheiten davon abgehalten. Glauben Sie mir, ein Bettler auf der Straße genießt größeren Seelenfrieden als ein Kabinettsminister …“

„Der Kopf, auf dem die Krone ruht, schläft nicht gut.“

„Genau, genau“, sagte Sikiokuu. „Manchmal finden wir überhaupt keinen Schlaf. Aber ich will Sie nicht mit unseren Problemen belasten. Lassen Sie mich vielmehr sagen, wie ich mir die Agenda für unseren Abend vorstelle, ja? Sobald Sie mit dem fertig sind, weswegen Sie hier sind, werden wir Sie im Schutz der Dunkelheit zu Ihrem Schrein zurückbringen. Ihre Nachbarn werden nichts merken; es wird so aussehen, als wären Sie niemals weg gewesen – Sie haben mein Wort, die Sache wird nicht über uns drei hinausgetragen. Das heißt aber nicht, dass der Staat Sie jemals vergessen wird. Oh, nein. Die Regierung hat viele Möglichkeiten, Menschen wie Ihnen ihre Dankbarkeit zu beweisen. Das Wichtigste für Sie ist, dass Sie Ihre Arbeit ordentlich machen und uns helfen, die Verbrecherin Nyawĩra zu fassen.“

„Ich verstehe nicht ganz, worum Sie mich bitten“, sagte der Herr der Krähen.

„Wir haben das ganze Land nach Nyawĩra abgesucht, überall, und nicht die geringste Spur auch nur ihres Schattens gefunden. Wir wünschen, dass Sie Ihre Beschwörungskräfte einsetzen, Ihr Wahrsagungsvermögen, was auch immer, all Ihre Zauberkünste, um uns zwei Fragen zu beantworten. Lebt Nyawĩra oder ist sie tot? Wenn sie tot ist, wo wurde sie begraben? Wenn sie lebt, wo versteckt sie sich?“

„Entschuldigen Sie bitte“, sprach der Herr der Krähen. „Es scheint, als hätten Ihre Männer nicht verstanden, was ich ihnen gesagt habe. Ich war der Ansicht, mich klar und deutlich ausgedrückt zu haben, aber ich habe mich wohl getäuscht. Ich habe Ihren Leuten gesagt, meine Aufgabe ist es, Dämonen aufzuspüren, die die Seele oder den Körper befallen, ihre ist es, Verbrecher zu fangen.“

„Halten Sie die Polizei nicht zum Narren. Sie weiß genau, wann es jemand ernst meint und wann nicht. Sie weiß, dass Wörter eine Oberfläche und eine tiefere Bedeutung haben. Die Angewohnheit, Bestechungsgelder zu nehmen, hat sie die Sprache der Parabeln gelehrt. Wenn ein Polizist bestochen werden will, dann sagt er nicht ‚Gib mir Geld!‘, sondern ‚Es ist sehr kalt heute‘, selbst wenn es brütend heiß ist. Und von Ihnen wird erwartet zu sagen: ‚Warum nehmen Sie nicht diesen Burĩ-Schein und trinken einen Tee?‘ Also, obwohl Sie es nicht direkt gesagt hatten, wussten die Polizisten, dass Ihr Nein eine Art Ja zum Ausdruck brachte. Sehen Sie, sie haben bemerkt, dass Sie wussten, was auch sie wissen: Sogar Wände können Ohren haben. Sie sind ein sehr vorsichtiger Mensch, Mr. Hexenmeister, ein weiser Mann. Die Eile ist die Mutter des Scheiterns. Und auch, wenn Vorsicht eine Tugend ist, kann zu viel Vorsicht zur Gefahr werden. Glauben Sie mir, mein Freund, was immer Sie mir sagen werden, es wird diesen Raum nicht verlassen. Niemand wird erfahren, dass Sie oder ein anderer Hexenmeister uns geholfen haben, Nyawĩra zu fassen.“

„Mr. Minister“, fuhr der Herr der Krähen auf. „Noch einmal von vorn: Meine Kräfte dienen dem Schutz der Gesetze, die Leib und Seele bestimmen, und die Ihren schützen die Gesetze, die die Gesellschaft regieren. Ich spüre nicht denen nach, die die Gesetze der Gesellschaft brechen, sondern denen, die die Gesetze des Lebens zerstören. Ich bekämpfe Krankheiten; Sie bekämpfen Verbrecher.“

Sikiokuu spürte, wie ihn die Hoffnung verließ und Zorn in ihm aufstieg. Er beherrschte sich nur mit Mühe, diesem dreisten Kerl keine Beleidigungen an den Kopf zu schleudern.

„Mr. Herr der Krähen, Sie mögen der größte Hexenmeister der Welt sein, aber Sie stehen nicht über dem Gesetz. Und das Gesetz besagt, jeder Bürger, ob er Hexenmeister oder Priester oder sonst was ist, dem Staat helfen muss, Kriminelle zu ergreifen. Wenn jemand einen anderen beobachtet, wie er ein Verbrechen begeht und diese Person nicht den Behörden anzeigt, dann begeht er ebenfalls ein Verbrechen.“

„Ich sage Ihnen die Wahrheit. Ich habe nicht die Macht, die Sie mir zuschreiben“, erwiderte der Herr der Krähen, doch seine Stimme klang herausfordernd.

Sikiokuu stand abrupt auf, ging im Zimmer herum und zog und zwickte sich nervös an den Ohren, als könnte er nicht glauben, dass er, ein hochrangiger Minister in der Regierung des Herrschers und im Augenblick mit der Gewalt über das ganze Land ausgestattet, nachts in seinem Büro saß und mit einem Hexer über den Einsatz von Zauberei diskutierte. Er beruhigte sich langsam und setzte sich wieder; weiterhin entschlossen zu erreichen, was er sich vorgenommen hatte.

„Okay, einigen wir uns darauf, dass es tatsächlich ein Missverständnis gab. Was soll’s. Vergessen wir das Gewesene. Was geschehen ist, ist geschehen. Es bringt nichts, wegen einiger Tropfen verschütteter Milch Tränen zu vergießen. Sagt man nicht so? Ich muss Ihnen eine oder zwei Fragen stellen, nur um die Situation zu klären. Sie weigern sich nicht, der Regierung zu helfen, oder?“

„Nein.“

„Okay, genauso wie ich dachte. Sie sind eine Macht, mit der man rechnen muss, aber Sie wissen auch mit der Macht zu rechnen. Schauen Sie jetzt in Ihren Spiegel und sagen Sie mir, was Sie sehen.“

„Ich habe meinen Spiegel nicht mitgebracht“, sagte der Herr der Krähen.

„Warum sind Sie wohl hergekommen, verflucht noch mal?“, donnerte Sikiokuu los und bemühte sich nicht mehr, seinen Verdruss zu verbergen. „Um meine Zeit zu verschwenden, oder was? Meine Anweisung, Ihren Spiegel mitzubringen, war laut und deutlich.“

Der Herr der Krähen war kurz davor, den Minister daran zu erinnern, dass seine Anwesenheit hier erzwungen worden war, besann sich aber eines Besseren. Schließlich stand Nyawĩras Leben auf dem Spiel. Wenn der Minister seine Leute jeden zweiten Tag zum Schrein schickte, wäre Nyawĩra in ständiger Gefahr. Statt offenem Widerstand wählte er eine andere Taktik.

„Das ist nicht ihre Schuld“, sagte er. „Sie haben mir befohlen, meinen Spiegel mitzunehmen, aber ich habe ihnen versichert, dass es jeder andere verfügbare Spiegel auch tun würde. In den meisten Fällen ist es sogar besser und effektiver, den Spiegel der Person zu verwenden, die befallen ist, weil dieser Spiegel über den zusätzlichen Vorteil verfügt, die Schatten seiner Besitzer bereits in sich aufgenommen zu haben.“

„Das ist gut“, sagte Sikiokuu etwas besänftigt. „Mein Appartement hat viele Zimmer, und in jedem hängt ein Spiegel. Wenn wir lange arbeiten und zu müde sind, um nach Hause zu gehen, dann bleiben wir über Nacht hier. Unsere Appartements sind eigentlich Erweiterungen unserer Büros. Was mich daran erinnert, oh, bitte verzeihen Sie mir, dass ich so ein schlechter Gastgeber bin. Was darf ich Ihnen anbieten? Bier? Whisky? Wein? Was immer Sie wollen!“

„Vielen Dank, nein. Ich trinke keinen Alkohol. Alkohol ist nicht mein persönlicher Erlöser.“

Sikiokuu ging lachend in ein anderes Zimmer. Sogar als er mit einem Spiegel zurückkam, lachte er noch.

„Alkohol ist nicht Ihr persönlicher Erlöser?“, fragte Sikiokuu nach und reichte ihm den Spiegel. Dann wurde er angesichts der vor ihm liegenden Herausforderung todernst. „Ich möchte, dass Sie in diesen Spiegel sehen. Durchsuchen Sie alles, bis Sie diese Nyawĩra entdecken. Wenn Sie sie finden, werde ich dafür sorgen, dass Sie bekommen, was immer Sie wollen: Geld, Anteile an einem Unternehmen, einen Bauernhof in einem Gebiet, das früher nur Weißen vorbehalten war, ein Grundstück in Eldares oder zwei – Sie haben die Wahl. Okay? Und denken Sie daran, sollte ich jemals in ein höheres Amt aufsteigen, werde ich Sie zum Oberhexenmeister der Regierung ernennen. Verlassen Sie sich darauf. Ich werde Ihnen die gute Tat von heute tausendfach vergelten.“

Er redete, als kämen die Worte aus seinem Mund, bevor er sie gedacht hatte, obwohl es im Augenblick fast so schien, als hätten die Gedanken genug davon, den Worten zu folgen, und verbissen sich nun in einen einzigen Wunsch: den Weg zu Nyawĩras Versteck zu erfahren. Es war eigenartig, dass die Stimme eines Menschen eine solche Mischung aus Gebet, Bestechung, Drohung, Furcht und Verlangen in sich tragen konnte.

Dem Zauberer war klar, dass Sikiokuu verzweifelt und deshalb zu allem fähig war, weshalb er beschloss, ihn nicht gegen sich aufzubringen. Er musste alles tun, um Sikiokuu und seine Gefolgsleute von jeglichem Gedanken abzubringen, der sie wieder zum Schrein führen könnte.

„Geben Sie mir den Spiegel“, sprach er. „Aber ich muss Sie warnen: Ich habe so etwas noch nie gemacht. Erschrecken Sie also nicht vor etwas Unerwartetem.“

„Probieren Sie es einfach aus und schauen Sie, was Sie im Spiegel sehen. Es wieder und wieder zu versuchen, ist der Schlüssel zum Erfolg.“

Selbst mit dem Spiegel in der Hand war dem Herrn der Krähen noch nicht klar, wie er seinen Auftritt im Einzelnen gestalten sollte. Er wusste nur, dass er Nyawĩra schützen musste. Er stand auf und begann, tief in Gedanken versunken, durch das Zimmer zu gehen. Sikiokuu blieb sitzen, aber seine Augen folgten jeder Bewegung des Zauberers. Nun setzte sich der Zauberer wieder und räusperte sich.

„Ich möchte, dass Sie alle Lichter ausmachen, bis auf eines für den Spiegel“, sprach der Herr der Krähen. Er hatte noch nicht ausgesprochen, da war Sikiokuu schon aufgesprungen und begann, die Lampen zu löschen, außer einer, die den Tisch nun in ein gespenstisches Licht tauchte.

„Setzen Sie sich mir gegenüber auf die andere Seite des Tisches“, sprach der Herr der Krähen.

Er hielt den Spiegel dicht über den Tisch.

„Hören Sie aufmerksam zu. Jetzt bin ich an der Reihe, ein paar Fragen zu stellen.“

„Fragen Sie, was Sie wollen. Es ist noch niemals jemand verurteilt worden, weil er Fragen gestellt hat.“

Sikiokuu sah, dass der Spiegel in der Hand des Herrn der Krähen zu zittern begann.

„Stimmt etwas nicht?“, fragte er.

„Sehen Sie es nicht?“

„Was?“

„Ich weiß es nicht genau. Aber wir werden es herausfinden. Was haben Sie geantwortet, als ich Ihnen sagte, ich würde Ihnen einige Fragen stellen?“

„Ich sagte, dass niemand jemals dafür verurteilt wird, weil er Fragen stellt.“

Der Spiegel zitterte heftig, auch als der Herr der Krähen mit beiden Händen versuchte, ihn auf den Tisch zu legen.

„Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, niemand wird jemals dafür verurteilt, weil er Fragen stellt?“

„Selbst ein Kind wüsste, wovon ich rede“, antwortete Sikiokuu, der dem Zauberer übel nahm, seine Intelligenz anscheinend nicht besonders hoch einzuschätzen.

„Der Spiegel ist kein kleines Kind. Und er will es wissen.“

„Okay, in Ordnung. Ich meine damit, dass niemals jemand vor einem ordentlichen Gericht angeklagt wird, weil er Fragen stellt. Man steckt niemanden ins Gefängnis, nur weil er Fragen stellt.“

Der Spiegel reagierte mit heftigem, kaum kontrollierbarem Zittern, und es gelang dem Herrn der Krähen nur unter großen Schwierigkeiten zu verhindern, dass er Sikiokuu ins Gesicht sprang.

„Warum zittert der denn so? Habe ich etwas gesagt, das ihn aufregt?“, fragte ein eingeschüchterter Sikiokuu.

„Mr. Minister, Sie müssen in Ihr Herz sehen. Sind Sie sich wirklich sicher, dass man niemals angeklagt und verurteilt werden kann, wenn man Fragen stellt? Nicht einmal in Aburĩria?“

Sikiokuu dachte über die Frage nach. Dieser Zauberer und sein Spiegel fingen an, ihn zu beunruhigen.

„Nun, ab und zu sperren wir tatsächlich Leute dafür ein, dass sie Fragen stellen, aber nur die, die anerkannte Wahrheiten hinterfragen oder das herrschende Recht unterlaufen oder in Zweifel ziehen, wie dieses Land regiert wird.“

Der Spiegel beruhigte sich allmählich. „Der Spiegel zittert nicht mehr“, sprach der Herr der Krähen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ich habe Ihnen gesagt, dass Sie meinen Fragen sehr aufmerksam lauschen sollen. Und Sie müssen die Wahrheit sagen, Sie haben selbst erlebt, dass mit dem Spiegel nicht zu spaßen ist. Gehört dieser Spiegel Ihnen?“

„Ja.“

„Sind Sie der Einzige, der ihn benutzt?“

„Warum?“

„Was habe ich Ihnen gesagt? Ein Spiegel ist ein gewöhnliches Ding, und dennoch ein besonderes Werkzeug. Er fängt unsere Schatten ein. Schatten, die in den Spiegel eintreten, verschwinden nicht. Es bleiben Spuren, Reflektionen von uns, unseren Herzen, die Wirkung dessen, was wir uns antun. Das einzige Problem ist, dass sich Schatten ineinanderschieben und damit verhindern können, einzeln deutlich erkennbar zu werden. Das kann auch bei diesem Spiegel der Fall sein, wenn andere ihn benutzt haben. Außerdem könnten einige Schatten auftauchen, Mr. Minister, von denen Sie nicht wollen, dass andere sie sehen. Deshalb frage ich Sie, hat außer Ihnen noch jemand diesen Spiegel benutzt? Wenn es Ihnen jedoch nichts ausmacht, dass auch ich diese Gesichter sehe, so ist es auch mir recht. Ich bin sehr diskret.“

Sikiokuu dachte an die Gesichter der Frauen, vor allem der Ehefrauen anderer, die er in seinem Schlafzimmer geliebt hatte. Eine von ihnen gehörte, wie sich herausstellte, zu denen, die regelmäßig dem Herrscher das Bett bereiteten. Der Herrscher wachte sehr über die Frauen, die mit ihm das Bett teilten, und sollte nicht erfahren müssen, dass jemand anderes sie vorher oder nachher berührte. Wie viele Ehemänner hatte er ins Ausland getrieben, ihnen Arbeit an weit entfernten Orten verschafft, nur damit er ungehinderten Zugang zu ihren Frauen hatte? Einer, ein namhafter Geschäftsmann, hatte seinen Kopf eingebüßt, weil er sich mit einer Frau, die bekanntermaßen eine der bevorzugten Bettgespielinnen des Herrschers war, getroffen und damit angegeben hatte. Sikiokuu sprang unvermittelt auf, um sich den Spiegel zu greifen.

„Ich hole Ihnen einen anderen“, sagte er.

Erneut eilte Sikiokuu in ein anderes Zimmer, suchte nach einem Spiegel, den nur er benutzt hatte, und brachte ihn zum Herrn der Krähen.

„Und Sie sind jetzt absolut sicher, dass nur Sie diesen Spiegel benutzt haben?“

„Ich bin mir nicht ganz sicher. Aber versuchen wir es trotzdem.“

„Sie wissen um die Spuren Ihres Schattens in diesem Spiegel?“

„Wo soll ich denn einen Spiegel herbekommen, den ich bislang noch nicht benutzt habe? Wahrsagen Sie mit diesem, ich trage die Konsequenzen.“

„Ihnen ist bewusst, wenn Sie lügen oder die Fragen nicht ehrlich beantworten, kommen Sie der Suche nach dem Objekt möglicherweise in die Quere?“

„Ich werde alle Ihre Fragen beantworten, aber vergessen Sie nicht, ich bin nicht hier, um einen Lügendetektortest zu machen. Und falls ich Sie daran erinnern darf, Sie sind hier, weil Sie Nyawĩra finden sollen, nicht mich.“

„Ich wollte Ihnen nur klarmachen, wie der Spiegel funktioniert, damit Sie eine bewusste Entscheidung treffen können, ob wir mit der Suche weitermachen sollen oder nicht. Es liegt allein bei Ihnen.“

„Machen wir weiter“, antwortete Sikiokuu etwas ungeduldig.

„Knien Sie nieder, schließen Sie die Augen, falten Sie die Hände wie zum Gebet, wie ein Bittsteller vor einem imaginierten Schrein. Konzentrieren Sie sich auf Nyawĩras Bild in Ihrem Kopf. Sie dürfen sich auf keinen Fall von diesem Bild ablenken oder Gedanken an ein anderes Bild dazwischenkommen lassen.“

Sikiokuu versuchte, der Forderung zu folgen, doch seine Gedanken wanderten unentwegt von einem Gegenstand zum nächsten. Er war froh, seine Leutnants gebeten zu haben, im Vorzimmer zu bleiben. Was aber würden sie sagen, wenn sie hereinkämen und sähen, wie er bei abgedunkeltem Licht vor einem Hexenmeister kniete? Er sprang auf und eilte zu den Türen der anderen Zimmer, um sie abzuschließen. Er hängte sogar das Telefon aus, damit keine Anrufe, auch nicht vom Herrscher, die Sitzung störten. Dann nahm er wieder die Haltung des Bittstellers ein. Aber auch jetzt wollte sich kein klares Bild der Frau vor seinem geistigen Auge formen, ihm kamen nur undeutliche, einander überlagernde Umrisse, doch er versuchte es weiter. Ab und zu blickte er verstohlen zum Herrn der Krähen hinüber und fühlte sich durch das, was er sah, etwas wohler, weil der Zauberer seinen Blick unverwandt auf den Spiegel richtete. Jetzt durchbrach die Stimme des Herrn der Krähen die Stille im Zimmer, als würde sie auf etwas reagieren, das im Spiegel auftauchte. Sikiokuu hätte es selbst gern gesehen, aber er traute sich nicht, eingeschüchtert von der Feierlichkeit der Szene.

„Hier, ein Schatten taucht auf. Dort. Er bleibt stehen. Er geht. Er geht weiter. Jetzt ist er weg; ah, da ist er wieder. Es ist der Umriss einer Frau, nicht sehr deutlich, aber, oh, ja, es ist eine Frau. Eine junge Frau. Sie rennt wie eine Antilope in der Wildnis. Ihr Schatten wird eins mit dem Gehölz. Da, sie überquert einen Fluss. Sie verschwindet in einem Loch, wie in ,Alice im Wunderland‘. Dunkelheit. Licht. Sie kommt aus dem Loch. Ich sehe sie wieder in der Wildnis – nein, nein, sie ist unter Menschen. Sie verschwindet in der Menge …“

„Halten Sie sie auf! Bitte halten Sie sie auf!“, schrie Sikiokuu. „Oder folgen Sie ihr! Folgen Sie ihr und finden Sie heraus, wohin sie geht oder wen sie treffen wird oder mit wem sie redet, aber verlieren Sie sie nicht aus dem Blick …“

„Schscht. Ein zweiter Schatten ist aufgetaucht. Er überlagert das Geschehen. Er ist riesig, aber verschwommen. Gut. Jetzt ist er wieder deutlich zu sehen. Es ist der Schatten eines Mannes, der Macht und Selbstvertrauen besitzt. Er sieht aus wie ein Minister, ein Regierungsmitglied. Er trägt Kleidung, die aussieht wie … Ich will hier aufhören. Ich möchte nicht mehr sehen“, sprach der Herr der Krähen und wandte den Blick vom Spiegel.

„Warum schauen Sie nicht mehr in den Spiegel?“, fragte Sikiokuu, der ebenfalls die Augen wieder öffnete.

„Sind Sie sicher, dass ich weitermachen soll?“

„Was haben Sie gesehen? Wessen Schatten war es? War es Machokali? Ist er der Frau gefolgt? Haben Sie miteinander geredet, sich begrüßt, sich angesehen? Sagen Sie es mir. Sagen Sie mir alles, was Sie gerade gesehen haben …“

„Es war Ihr Schatten.“

„Lassen Sie meinen Schatten da raus“, erwiderte Sikiokuu enttäuscht. „Konzentrieren Sie sich wieder auf den Spiegel und sehen Sie zu, ob Sie den Schatten der Frau zurückholen können. Strengen Sie sich an. Konzentrieren Sie sich auf sie.“

Doch wie oft er es auch versuchte oder wie sehr er sich anstrengte, der Herr der Krähen berichtete wieder dieselbe Szene: Immer erschien der Schatten einer Frau, die durch die Wildnis rannte, einen Fluss überquerte, um dann in einer Menschenmenge zu verschwinden, genau in dem Moment, in dem Sikiokuus Schatten die Menge zu verdecken begann.

„Wow! Ihr Schatten ist sehr mächtig …“, sprach der Zauberer, als machte er Sikiokuu ein Kompliment.

„Mächtig? Sagten Sie mächtig?“, fragte Sikiokuu, dessen Interesse an seinem eigenen Schatten plötzlich geweckt war.

„Ja. Es sieht so aus, als ob alle anderen Schatten ihn fürchten.“

„Fürchten? Vergessen Sie Nyawĩra mal kurz und finden Sie mehr über meinen Schatten heraus. Wie sieht er aus? Was hat er an?“

„Er ist Ihr genaues Ebenbild. Gekleidet ist er wie der Herrscher … und er hat sogar einen ähnlichen Gang …“

„Warten Sie. Halt. Suchen Sie nach, nein, nein, lassen Sie mich nachdenken … ich muss das erst durchdenken …“, sagte Sikiokuu panisch.

Er zitterte am ganzen Leib. Was bedeutete das? War Seiner Allmächtigkeit etwas zugestoßen … Oder war das lediglich ein Vorbote der Zukunft? War es sein Schicksal, Sikiokuus Schicksal, der Nachfolger …?

Er wollte es unbedingt wissen. Aber wie sollte er den Herrn der Krähen auffordern, sich diesen besonderen Aspekt seiner Zukunft näher anzusehen, ohne sich durch das Aussprechen dessen, was in seinem Kopf vor sich ging, zu kompromittieren? Er schloss die Augen und versuchte, sich eine andere Zukunft vorzustellen, doch so sehr er sich auch mühte, seine Gedanken wanderten immer wieder zu diesem Bild von sich selbst in einem Anzug, der dem Seiner Allmächtigen Vortrefflichkeit glich. Derselbe Gang? Er sah sich gehen, das Militär abschreiten, das stramm und salutierend vor ihm stand … Der Herr der Krähen hatte gesagt, der Spiegel könnte einfangen, was … Plötzlich kam alles zum Stillstand. Hatte dieser Spiegel etwa eine seiner geheimsten Machtphantasien eingefangen?

In jenen Tagen, als der Herrscher in Amerika weilte, hatte sich Sikiokuu immer wieder in seinem Büro oder Appartement eingeschlossen, sich exakt so wie der Herrscher gekleidet und sich auf einen erhöhten Stuhl gesetzt, der dem Seiner Allmächtigen Vortrefflichkeit ähnelte. Aber da nur er über dieses Rollenspiel Bescheid wusste, wie war es dem Herrn der Krähen gelungen, es zu enthüllen?

Selbst seinem skeptischen und zynischen Verstand war dies die Bestätigung, dass der Herr der Krähen übernatürliche Kräfte besaß. Sein Wunsch, das Schicksal seines Schattens zu erfahren, wuchs sich zu einem unwiderstehlichen Hunger nach weiteren Zeichen aus. Doch seine Gedanken in Worte fassen, das konnte und wollte er nicht. Plötzlich brach es aus ihm heraus: „Wenn.“ Jedes Mal, wenn er etwas sagen wollte, konnte er nur murmeln: „Wenn.“ Bald darauf bellte er eine Serie von „Wenns“ heraus. Der Herr der Krähen schaute ihn erstaunt an. Sikiokuu fiel zu Boden und begann herumzukriechen. Seine Ohren hingen auf beiden Seiten herunter, Gesicht und Augen waren hinauf zum Herrn der Krähen gerichtet, als würde er Hilfe suchen. Der Herr der Krähen gab ihm den Spiegel und befahl ihm, sich selbst genau anzuschauen und seine Gedanken auf ein einziges Anliegen zu konzentrieren.

„Hören Sie, ich kann Ihnen helfen, Ihre Gedanken mit Worten auszudrücken. Doch dazu müssen Sie, ich wiederhole das, meine Fragen wahrheitsgemäß beantworten. Andernfalls wird der Spiegel Ihre Lügen einfach entlarven.“

„Wenn, wenn, wenn“, bellte Sikiokuu, als wollte er „ja, ja, ja“ sagen, und nickte heftig.

„Geben Sie mir den Spiegel zurück. Wir fangen an. Träumen Sie manchmal davon, auf dem Stuhl zu sitzen, der durch den Herrscher belegt ist?“, fragte er in den Spiegel schauend und warf ab und zu einen kurzen Blick auf das Gesicht des Ministers.

Sikiokuu hörte sehr genau, was er gefragt wurde, aber es fiel ihm schwer zu antworten. Schließlich nickte er.

„Nein, sprechen Sie es aus“, beharrte der Herr der Krähen. „Träumen Sie manchmal davon, das höchste Amt im Land einzunehmen?“

„Ja, das tue ich“, presste er hinter zusammengebissenen Zähnen hervor.

Und damit geriet Sikiokuu in Fahrt und begann zu reden; wie ein reißender Fluss strömten ihm die Worte aus dem Mund.

„Es gibt keinen Minister, der nicht davon träumt, eines Tages der Herrscher zu werden. Wir alle sind begierig nach Macht, und welche Macht ist größer als die eines obersten Herrschers? Du hebst deinen Fliegenwedel oder einen Stab, und Männer knien vor dir nieder. Du niest, und du bringst eine riesige Menge zum Schweigen. Du hast den Schlüssel zu allem Reichtum im Land. Ein Wort, nur ein einziges Wort, und dir stehen die Türen der Central Bank offen. Und wenn die nationale Schatztruhe leer ist? Kein Problem. Ein Wort von dir, und es werden Tausende Banknoten gedruckt. Oh, stellen Sie sich nur mal vor: Wenn du sagst ‚Putzt euch die Nasen‘, dann werden Millionen Taschentücher an Millionen Nasen geführt. Du sagst zu deinen Ministern ‚Setzt mal ein Komma‘, und sie machen es. ‚Macht einen Punkt‘, und sie machen es, ohne zu fragen. Können Sie sich vorstellen, wie geehrt sich Ihre Minister und die ehrgeizigen Parlamentsmitglieder fühlen, wenn man Interesse an ihren Frauen bekundet, und ganz aus dem Häuschen geraten, wenn man mit ihnen im Bett war? Macht. Ich träume jede Stunde an jedem Tag von dieser Macht, ob ich wach bin oder schlafe. Und warum auch nicht? Tatsache ist, dass ich heute de facto das Staatsoberhaupt bin, die Macht hinter dem Thron sozusagen, und sollte der Herrscher heute krank werden und sterben …“

Bevor er den Gedanken zu Ende geführt hatte, erschrak er. Es war Hochverrat, den Tod des Herrschers zu erwähnen, sich vorzustellen, zu träumen, zu denken oder darüber zu sprechen. Darauf stand die Todesstrafe. Sein Gesicht verzerrte sich bei dem Gedanken an das, was er gerade gesagt hatte und was es für seine Zukunft bedeuten konnte.

Der Herr der Krähen bemerkte das und tat, als wäre er in Trance und hätte nichts mitbekommen. Sikiokuu warf einen verstohlenen Blick auf den Herrn der Krähen, um herauszufinden, ob er seine letzten Worte gehört hatte. Er war unsicher, was er glauben sollte, als er den Zauberer noch immer über den Spiegel gebeugt sah. Er wartete auf ein Wort oder eine Wendung des Kopfes, doch der Zauberer verharrte in Trance, scheinbar vom Spiegel gebannt. Sikiokuu erhob sich und setzte sich auf seinen Stuhl.

„Mr. Herr der Krähen! Mr. Herr der Krähen!“, rief Sikiokuu, als versuchte er, jemanden aus dem Tiefschlaf zu wecken.

Der Herr der Krähen schrak auf.

„Psst, nicht sprechen. Der Schatten der Frau ist wieder da, und ich versuche, ihm zu folgen. Da ist sie. Auf einem Markt. In einer Kirche. In einer Moschee. In einem Tempel. Bleib stehen! Frau, bleib stehen!“, rief er und hielt den Spiegel fest in beiden Händen. „Ah, der Schatten ist verschwunden, schon wieder hat sich Ihrer darübergelegt. Es tut mir leid“, sagte er, wandte den Blick vom Spiegel ab und sah Sikiokuu an. „Was haben Sie gerade gesagt? Ich hatte Sie etwas gefragt und warte noch auf eine Antwort. Oder wollen Sie mir nicht antworten?“

„Sie meinen, Sie haben nicht gehört, was ich gesagt habe?“

„Was?“

„Nein, nein“, sagte Sikiokuu, als würde er mit sich selbst reden. Er konnte nicht glauben, was ihm gerade widerfahren war.

„Warten Sie einen Augenblick“, sprach der Herr der Krähen und starrte Sikiokuu an. „Warum schauen Sie so mürrisch? Ich gratuliere Ihnen, Mr. Minister.“

„Wozu?“

„Haben Sie es so schnell vergessen? Sie sind frei und können nun sagen, was Ihnen auf der Seele liegt. Ihre Wortkrankheit ist geheilt.“

Sikiokuu fühlte eine große Last von sich genommen. Trotzdem sorgte er sich noch. „Was habe ich denn gesagt, als meine Worte wieder zu fließen begannen?“, fragte er den Herrn der Krähen. So würde er erfahren, was der Zauberer gehört hatte, und sollte der die hochverräterischen Äußerungen wiederholen, so war Sikiokuu bereit, sie ihm in den Mund zu legen. Aber der Herr der Krähen erkannte die Falle und tappte nicht hinein.

„Ich war von dem plötzlichen Auftauchen des Bildes dieser Frau abgelenkt. Ich hoffte, sie würde stehen bleiben, damit ich sie mir genauer ansehen und ihre Kontakte und ihren Aufenthaltsort bestimmen könnte. Aber es spielt jetzt keine Rolle mehr, was Sie mir zur Antwort gegeben haben oder nicht. Wichtig ist allein, dass Sie geheilt sind. Was soll ich machen, jetzt wo wir in dieser Sackgasse stecken, mit Ihrem alles blockierenden Schatten?“

„Da muss mehr dahinterstecken, als das Auge sehen kann“, sagte Sikiokuu, als würde er laut nachdenken.

„Wirklich?“

Sikiokuu stand auf und ging wieder gedankenverloren im Büro auf und ab. Wie konnte er gewiss sein, dass dieser Hexenmeister nicht gehört hatte, was er so unvorsichtig ausgesprochen hatte? Wie konnte er sichergehen, dass der Spiegel die Spuren seines Hochverrats nicht festgehalten hatte? Er wollte den Herrn der Krähen direkt fragen, ob er die betreffenden Worte gehört hatte. Aber dann würde er sie wiederholen müssen und hätte das hochverräterische Verbrechen ein zweites Mal begangen. Und wenn der Herr der Krähen die Worte gar nicht gehört hatte? Würde er ihn dann nicht erst einweihen? Es kam ihm eine Idee, und er blieb stehen.

Er schaltete das Licht wieder an, setzte sich und schaute den Herrn der Krähen unvermittelt an.

„Mein lieber Zauberer“, sagte Sikiokuu in gleichmütigem Ton. „Ich weiß, Sie haben Ihr Bestes gegeben. Schließlich haben sie mich geheilt, und dafür danke ich Ihnen …“

Der Herr der Krähen war erleichtert. Bald würde er wieder mit Nyawĩra zusammen sein. Er hatte ihr viel zu erzählen.

„Kann ich bitte den Spiegel haben?“, fragte Sikiokuu.

Bereitwillig reichte der Herr der Krähen den Spiegel zurück. Sikiokuu warf ihn augenblicklich auf den Boden und begann, darauf herumzutrampeln, rhythmisch flatterten seine Ohren. Als er fertig und der Spiegel in winzige Stückchen zertrümmert war, keuchte er wie ein Flusspferd und seine Nase glänzte vor Schweiß wie die eines Hundes. Erleichtert, es selbst dem gerissensten Zauberer unmöglich gemacht zu haben, auf seine hochverräterischen Träumereien zuzugreifen, die der Spiegel möglicherweise eingefangen hatte, setzte sich Sikiokuu entspannt auf seinen Stuhl und schaute zum fassungslosen Herrn der Krähen hinüber. Sikiokuu redete jetzt, als würde er einem Vertrauten die belanglosesten Dinge erzählen.

„Nun, da das erledigt ist und es den Spiegel nicht mehr gibt, wollen wir uns mit Ihnen beschäftigen, Mr. Herr der Krähen. Ich habe nun selbst erlebt, dass Ihr Ruhm nicht auf bloßen Gerüchten beruht. Sie besitzen tatsächlich Macht, wahrscheinlich sogar größere Macht, als Ihnen bewusst ist, und die sollte zum Wohle unserer Nation genutzt werden. Stellen Sie sich Ihre Macht im Dienste des Staates vor. Der Polizei würde es gelingen, Verbrecher in ihren Verstecken ausfindig zu machen, und den Verteidigungsstreitkräften würden die Stellungen des Feindes angezeigt, einfach durch einen Blick in einen Spiegel! Sie und ich, wir müssen zusammenarbeiten und dafür sorgen, die Verbrecherin Nyawĩra aufzuspüren. Verstehen Sie, vorher werde ich Sie nicht gehen lassen. Nyawĩra muss sich in unseren Händen befinden, bevor der Herrscher zurückkehrt.“

Der Herr der Krähen spürte seine Zuversicht schwinden, war aber bemüht, sich die aufkommende Panik nicht anmerken zu lassen. Er würde weder dem Minister widersprechen, noch um seine Freiheit betteln. Er sah seine missliche Lage sogar in einem positiven Licht. Je länger er im Gefängnis saß, desto wahrscheinlicher würde sich Sikiokuu vom Schrein fernhalten. Sikiokuu mochte tausend Spiegel zerschlagen, doch egal welchen er ihm brachte, der Spiegel würde eine Geschichte erzählen, die stets in dieselbe Wahrheit mündete: Nyawĩra inmitten des Volkes. Es war ihr Recht, unter denen Schutz zu finden, über denen Sikiokuus Schatten lag.

Sikiokuus Schatten? Plötzlich kam ihm eine Idee.

„Wir ernten, was wir säen“, sagte der Herr der Krähen. „Sie haben den Spiegel zerbrochen, um Ihr Bild von sich zu tilgen. Also besorgen Sie mir einen Spiegel, der noch nicht von ihrem Schatten belastet ist.“

Herr der Krähen
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