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Man sagt, die Zeit heilt alle Wunden, aber dem Herrscher schien die Zeit den Schmerz nur noch zu vergrößern. Auch angesichts der bevorstehenden Abreise in die USA quälte ihn noch immer der entsetzliche Gedanke an das, was die Frauen ihm angetan hatten. Er konnte nicht verstehen, warum sie die Sache mit Rachael aufgebracht hatten, und obwohl er es sich nicht eingestand, war es das, was wirklich wehtat. Sie hatten sich in seine privaten Angelegenheiten eingemischt, und das hatte noch nie jemand gewagt. Der Mann ist die absolute Autorität im Haus. Das war die einzige Überzeugung, die Despoten und Demokraten gleichermaßen teilten, Anhänger des Kolonialismus wie des Antikolonialismus, Männer wie Frauen und die Führer aller Glaubensrichtungen. Wie konnten diese Frauen es wagen, in Frage zu stellen, was im Himmel wie auf der Erde so eindeutig war? Der elendeste Bettler in Aburĩria war jetzt sicherer König seines Hauses als er der Herr seines Hauses und seines Landes. Wann und wie waren sie an Rachael herangekommen?, fragte er sich immer wieder. Seine Nerven zuckten bei dem Verdacht, der ihn verfolgte: Hatte einer seiner geliebten Söhne als Mittler zwischen Rachael und den Frauen agiert? Aber wer von den vieren würde sich zu einem so grässlichen Akt kindlichen Ungehorsams und Verrats an der Männlichkeit hergeben? Er rief sich ihre Gesichter vor Augen und dachte über jeden von ihnen nach: Erst das Gesicht von Rueben Kucera, dann das von Samuel Moya, danach das von Dickens Soi und schließlich das von Richard Runyenje. Aber die Gesichter erzeugten nur größere Zweifel.
Sein Verdacht wurde so unerträglich, dass er seine Söhne unter dem Vorwand zusammenrief, sie vor seiner Abreise nach Amerika noch einmal sehen zu wollen. Er eröffnete den Familienrat mit der Anweisung, während seiner Abwesenheit wegen möglicher Intrigen innerhalb der Streitkräfte Augen und Ohren offen zu halten. Sie sollten außerdem auf die zurückbleibenden Minister achten, vor allem auf Sikiokuu. Er riet ihnen, nicht zu viel zu trinken, und zur Warnung konfrontierte er sie mit dem ihm zu Ohren gekommenen Bericht, dass einer von ihnen, der Zwei-Sterne-General, Teile seiner Uniform in einer Bar liegen gelassen habe, weil er einer Nutte hinterhergestiegen war. Der beschuldigte Sohn sprang auf und verteidigte sich, diese Geschichten seien Neid und Missgunst aus Teilen des M5 entsprungen. Der Herrscher hakte bei dieser Leugnung ein und lenkte das Gespräch auf Rachael, ihre abgeschirmte Mutter. Er wollte wissen, wann sie sie zuletzt besucht, worüber sie geredet hatten und ob sie sie gebeten habe, ihren Freunden oder Verwandten Grüße zu überbringen. War irgendwer mit Botschaften oder unschuldig wirkenden Grüßen an sie herangetreten? Sie schienen überhaupt nicht zu begreifen, wovon er redete, denn wie sich herausstellte, hatte keiner sie in der letzten Zeit besucht oder mit ihr telefoniert. Als er in ihre verblüfften Gesichter sah, die Verwirrung in ihren Stimmen hörte und ihre Reaktionen mit den Berichten des M5 über seine Söhne abglich, konnte der Herrscher mit Bestimmtheit sagen, dass keiner etwas unternommen hatte, die Privilegien zu gefährden, die sie im Augenblick genossen. Um klarzustellen, dass er Rachael keineswegs aus väterlicher Fürsorge erwähnt hatte, fragte er nach dem Befinden ihrer Frauen und drängte diejenigen, die noch nicht verheiratet waren, möglichst bald eine Familie zu gründen. Er riet ihnen aber, sich vor den Frauen zu hüten, weil alle Frauen, egal ob Mütter, Ehefrauen, Schwestern oder Töchter, immer ein Rätsel blieben und man ihnen nicht über den Weg trauen könne. „Vertraut niemals einer Frau“, sagte er mit scharfer Stimme, „denn die Frau ist der Ursprung alles Bösen.“
Er war gerade so richtig in Fahrt, als er plötzlich einen Einfall hatte, wie er sich an Rachael und den Frauen rächen konnte. Zum ersten Mal seit dem Tag der Schmach jubilierte es in ihm – so süß kann Rache sein. Unverzüglich besprach er diese Idee mit seinen Söhnen, damit sie seinen Plan nicht aus Versehen unterwanderten, während er in Amerika war. Er werde befehlen, während seiner Abwesenheit die Stromversorgung in Rachaels Haus zu unterbinden – aus Sicherheitsgründen. Er warnte sie, das Gelände in dieser Zeit zu betreten. Wenn sie es doch täten und ihnen ein Unglück zustoßen würde, hätten sie sich selbst die Schuld dafür zuzuschreiben. Was er ihnen selbstverständlich nicht mitteilte, war die damit verbundene Absicht, dass Rachael sich mit trockenen Blättern und Holz als Energiequelle begnügen musste. Dieser Mangel würde ihr eine Lehre sein und sie zwingen, alle Verbindungen zu den schamlosen und bösartigen Frauen abzubrechen. Selbst wenn bislang noch kein Kontakt zwischen Rachael und den Frauen stattgefunden hatte, wollte der Herrscher das für die Zeit seiner Abwesenheit verhindern.
Einen Tag nach dem Familienrat wurde der Strom in ihrem ländlichen Gefängnis abgeschaltet. Sofort begann das Gerede. Leute, die auf den an Rachaels Gefängnisfarm angrenzenden Hügeln wohnten und denen es trotz der hohen Mauern immer möglich gewesen war, des Nachts den einen oder anderen Blick auf das Haus zu werfen, sahen jetzt ein Licht, das sich durch die Finsternis bewegte. Manchmal außerhalb von Rachaels Haus, manchmal drinnen, und weil sie nicht sehen konnten, wer das Licht trug, schlossen sie daraus, dass es Rachaels Geist sein musste, der dort umherstreifte und Flüche murmelte. Der einzige Grund, weshalb sie die genauen Worte nicht hören konnten, lag in dem endlosen Lied, das die Lautsprecher in den vier Ecken des Grundstücks herausbrüllten, auf dass alle Welt es hörte:
Ich will gewissenhafter werden,
alles Böse aus meinem Herzen bannen
Ich will all meine Sünden bereuen,
dann kehrt mein Herr zurück
Das Licht, das nachts umherirrte, und das unerbittliche Lied ließen die Leute glauben, Rachael sei seit Langem tot, und aus Rache würde nun nachts ihr Geist umherwandeln und den Herrscher samt seinen Plänen für Amerika verfluchen.