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Selbstbewusst betrat Kaniũrũ den Raum, eine Aktentasche in der rechten Hand. Ins State House einberufen zu werden, egal aus welchem Grund, war eine große Ehre für ihn. Doch ein Blick zu Sikiokuu reichte, und er wusste, dass nicht alles zum Besten stand. Dann sah er, wie der Herrscher auf ihn zeigte. Die Größe der Hand und die des Herrschers überraschten Kaniũrũ, doch weder zeigte er es, noch ließ er sich davon aus der Fassung bringen.

„Wir erwarten einen vollständigen Bericht des Stellvertretenden Vorsitzenden von Marching to Heaven“, sprach der Herrscher und wies ihm den Stuhl neben Sikiokuu zu.

Anschließend befahl er Tajirika, sich neben Machokali zu setzen, sodass sich die beiden Paare gegenübersaßen. Diese Anordnung erlaubte dem Herrscher, jederzeit alle im Blick zu haben.

„Eure Allmächtige Vortrefflichkeit, ich habe eine Menge zu berichten, weiß aber nicht, wo und wie ich beginnen soll“, sagte Kaniũrũ, während er seine Aktentasche öffnete und großtuerisch Akte um Akte herausholte und sie vor sich auf den Boden legte.

„Warum fängst du nicht bei den Besuchern an, die dir Geld bringen?“, forderte der Herrscher.

Kaniũrũ sah jedoch keineswegs beunruhigt aus. Die Frage und der feindselige Ton bestätigten nur seine Beobachtung, dass Sikiokuu in Schwierigkeiten steckte und sein Freund im Falle einer Krise nicht in der Lage sein würde, ihm zu helfen. Jeder stirbt für sich allein.

Er ließ sich Zeit, seine Akten und Quittungen zu sortieren. Dann richtete er sich auf, um sich zu rechtfertigen.

Es sei tatsächlich so, gab er unumwunden zu, dass die aburĩrische Geschäftswelt bei ihm vorgesprochen habe, nachdem sie erfahren hatte, dass man ihm die einmalige Ehre erwiesen habe, seinem Herrscher und dem Land als Stellvertretender Vorsitzender von Marching to Heaven zu dienen. Dabei hätten sie ihm übergeben, was sie als Visitenkarten bezeichneten, und dies seien natürlich Briefumschläge voller Geld gewesen. Zuerst habe er nicht gewusst, was er mit diesen Umschlägen machen solle, aber nachdem er sich in dieser Angelegenheit mit seinem Freund und Wohltäter Minister Silver Sikiokuu beraten habe, sei man übereingekommen, dass er fünfundzwanzig Prozent behalten und die restlichen fünfundsiebzig Prozent auf verschiedene Konten Sikiokuus einzahlen solle.

Sikiokuu traute seinen Ohren nicht.

„What? Are you crazy?“, schrie er und sprang auf, ohne genau zu wissen, wie er sich verhalten sollte. Also stand er einfach da und zog sich voller Zorn an den Ohrläppchen, während er den Herrscher anflehte: „Eure Vortrefflichkeit, begreifen Sie doch! Meine Feinde haben sich mit diesem Mann zusammengetan, um meinen Namen und meinen Charakter in Verruf zu bringen. Ich schwöre, dass ich nichts mit diesen Umschlägen zu tun habe. Kaniũrũ, stimmt es also, was die Waswahili sagen? Der Dank des Esels ist ein Fußtritt. Ja, asante ya punda ni mateke.

„Mein Freund“, sagte Kaniũrũ leutselig, „wie du und jeder andere in Aburĩria auch, habe ich nur ein Leben. Der Unterschied zwischen meinem Leben und dem anderer ist, dass meines vollständig dem Herrscher geweiht ist und ich vor ihm niemals eine Lüge aussprechen könnte. Glaub mir, mein Körper würde mich verraten.“

„Der Mann lügt, wenn er den Mund aufmacht“, schrie Sikiokuu aufgebracht.

„Junger Mann“, sprach der Herrscher, „ist dir klar, dass das, was du da sagst, sehr schwerwiegend ist? Hast du irgendwelche Beweise für deine Behauptungen?“

„Eure Allmächtige Vortrefflichkeit, ich begreife nicht, warum Sikiokuu leugnet, von den Umschlägen und ihrem Inhalt zu wissen. Ich kann Ihnen versichern, dass weder Sikiokuu noch ich um die Gaben der Geschäftsleute gebeten haben. This has absolutely nothing to do with bribery or corruption“, betonte er.

„Genau, und ich hatte gar nichts damit zu tun“, sagte Sikiokuu.

„Das stimmt“, bestätigte Kaniũrũ, „aber nur deshalb, weil ich alles abgewickelt habe.“

„Wo sind die Beweise?“, fuhr der Herrscher dazwischen. „Ich will Beweise, keine endlosen Diskussionen.“

„Darf ich vortreten?“, fragte Kaniũrũ den Herrscher, als wäre er, Kaniũrũ, ein Anwalt, der um Erlaubnis bittet, an den Richtertisch treten zu dürfen.

Ohne auf eine Antwort zu warten, griff Kaniũrũ nach einem Bündel entwerteter Schecks und übergab sie dem Herrscher. Sie bewiesen, das Kaniũrũ über Monate Schecks auf Sikiokuu ausgestellt hatte. Alle trugen einen dem Anschein nach gültigen Bankstempel, der zeigte, dass sie entweder eingereicht oder auf Sikiokuus Konto eingezahlt worden waren.

Kaniũrũ verriet allerdings nicht, dass seine Freundin in der Bank, Jane Kanyori, ein fingiertes Konto auf Sikiokuus Namen eröffnet hatte, um Kaniũrũs Einzahlungen zu ermöglichen. Noch verriet er, dass ihm Jane Kanyori eine Bankkarte auf Sikiokuus Namen ausgestellt hatte, die es Kaniũrũ ermöglichte, Geld von Sikiokuus Konto abzuheben und es bei einer anderen Bank auf seinen eigenen Namen wieder einzuzahlen. Alles, wie es sich gehörte. Kaniũrũ war Künstler, und sein kalligraphisches Können kam ihm zugute, als er Sikiokuus Unterschrift fälschte.

„Sollte mein Anteil von fünfundzwanzig Prozent jemals für eines Ihrer Selbsthilfeprogramme benötigt werden, werde ich ihn jederzeit herausgeben“, erklärte Kaniũrũ und setzte sich wieder auf den Stuhl neben Sikiokuu.

Sikiokuu war zum ersten Mal im Leben vollkommen sprachlos. Der Mund stand ihm offen, doch er konnte weder leugnen noch protestieren oder seine Unschuld beteuern. In Gedanken versuchte er ebenso verzweifelt wie vergeblich herauszufinden, wie und wann er Kaniũrũ jemals übel mitgespielt hatte. Aber ihm fielen lediglich Wohltaten für seinen Freund ein.

„Eure Allmächtige Vortrefflichkeit, dahinter steckt mehr, als wir alle im Moment sehen“, sagte Sikiokuu schließlich weinerlich. „Bitte, ich flehe Sie an, erlauben Sie mir, die Sache zu untersuchen und ans Tageslicht zu bringen, was noch im Dunkeln verborgen ist.“

„Es gibt einen kürzeren und leichteren Weg, um das zu klären“, sprach der Herrscher. „Ich will deine Kontoauszüge sehen.“

Er gab Anweisung und bekam wenige Minuten später die Information von der National Bank of Commerce and Industry. Die Auszüge bestätigten alles, was Kaniũrũ behauptete.

Zutiefst verzweifelt, völlig hilflos und unfähig, Kaniũrũs Lügen zu entlarven, starrte Sikiokuu den Tränen nahe vor sich hin.

Der Herrscher kochte innerlich. So viel Geld hatte man mit Marching to Heaven, seinem persönlichen Projekt, gemacht, und er hatte nicht einen Cent abbekommen? Sikiokuu und Kaniũrũ, ein kleiner Jugendbrigadist, hatten dagegen Millionen eingesteckt.

Plötzlich fiel ihm etwas ein, was Tajirika zuvor gesagt hatte. Das Wesentliche lag oft im Detail. Schnell griff er nach den entwerteten Schecks und Kontoauszügen und prüfte sie noch einmal.

Sikiokuu betete mit aller Kraft, dass der Herrscher eine Unstimmigkeit fände, irgendetwas, egal wie winzig, das den Schaden wiedergutmachte, den Kaniũrũ angerichtet hatte.

„Ich möchte dich etwas fragen“, sprach der Herrscher und winkte mit einigen Schecks in Kaniũrũs Richtung, „warum sehe ich hier nur Unterlagen zu aburĩrischem Geld.“

„Ja, mein Herrscher“, antwortete Kaniũrũ. „Es waren alles Burĩ.“

„Und wo sind die Dollars?“, insistierte der Herrscher.

„Welche Dollars?“, fragte Kaniũrũ verwirrt.

„Eben die Dollars. Amerikanische Hundert-Dollar-Scheine. Drei Säcke von fünf mal zwei Fuß an einem Nachmittag, wie bei Tajirika vor dir. Oder schauten deine Besucher nicht verächtlich auf den Wert des Burĩ herab? Haben sie etwa nicht gesagt, Burĩ ni bure?“

„Jetzt bist du dran, Arschloch!“, sagte sich Sikiokuu frohlockend. „Da hat man den gerissenen Kerl auf frischer Tat ertappt.“

Auch Tajirika frohlockte. Er war sich sicher, dass seine Raffiniertheit Kaniũrũ in eine Lage gebracht hatte, aus der er sich nicht herauswinden konnte.

Und mit einem Mal dämmerte es Kaniũrũ: Diese Geschäftsleute hatten Tajirika die ganze Zeit mit Dollars bezahlt. Warum hatten sie das nicht auch bei ihm gemacht? Tajirika war gar nicht der Dummkopf, für den er ihn gehalten hatte. Scheinbar ohne jede Nervosität antwortete er dem Herrscher:

„Es gab einige, die in Dollars zahlen wollten. Aber Sikiokuu und ich haben ihr Angebot abgelehnt. Wenn wir ausländische Währung angenommen hätten, hätten wir alle Regeln und Vorschriften der Central Bank zum Devisenverkehr nur zur Selbstbereicherung gebrochen, und bei solchen Dingen mache ich nicht mit. Ich persönlich wollte etwas, das ich auch rechtfertigen konnte, selbst wenn sich herausstellen sollte, dass ich Unrecht getan habe. Ich will an meinem Verhalten gemessen werden. Es hat mich aufgebracht, als ich einige von denen reden hörte, als würden sie auf den Burĩ hinabsehen; einer hat sogar ‚Burĩ ni bure‘ gesagt. Aber ich gehöre nicht zu denen, die untätig danebenstehen, wenn Leute sich abfällig über unsere nationale Währung äußern. Mein Freund und Wohltäter Sikiokuu war sogar noch wütender auf sie wegen ihrem Mangel an Patriotismus. Kurz gesagt, wir lehnten es ab, uns mit Dollars bestechen zu lassen.“

„Eure Allmächtigkeit“, warf Sikiokuu ein, „ich flehe Sie an, glauben Sie mir, ein solches Gespräch über Burĩ und Dollars zwischen mir und diesem Halunken hat nie stattgefunden.“

Der Herrscher nahm kaum wahr, was Sikiokuu sagte. Er war noch immer voll und ganz mit den drei Säcken Dollars beschäftigt, weil ihm ein Sack Dollars kostbarer war als alle Burĩ in Aburĩria. Auch er hielt die nationale Währung für schwach, weil sich ihr Wert wie ein Chamäleon änderte. Tajirika sah er jetzt in neuem Licht: Da saß ein heller Kopf, der wusste, wie man aus dem Nichts Dollars machte. Kaniũrũ und Sikiokuu hingegen kamen ihm wie Idioten vor, weil sie darauf bestanden hatten, in Burĩ bestochen zu werden.

Er wandte sich Tajirika zu.

„Kaniũrũ hat uns erzählt, was er mit seinen Burĩ gemacht hat. Was hast du mit deinen drei Säcken Dollars gemacht?“

Alle Blicke richteten sich auf Tajirika.

Herr der Krähen
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