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Tajirika war außer sich vor Freude, jemanden vor sich zu haben, der die Macht hatte, ihn aus dem Gefängnis zu befreien. Nichts lag außerhalb der Möglichkeiten des Herrn der Krähen, der vielleicht sogar gekommen war, um Tajirikas Qualen endlich zu beenden. Tajirika machte sich gar keine Mühe herauszubekommen, was der Herr der Krähen hier eigentlich wollte und wie er hergekommen war.
Er redete sich einfach von der Seele, was er erlitten hatte, seit er die Vorladung vor Kaniũrũs Untersuchungsausschuss zum Schlangenwahn erhalten hatte. Er berichtete von seiner Inhaftierung, den Verhören durch Njoya und Kahiga, seiner Begegnung mit Minister Sikiokuu in dessen Büro und der Rückkehr in die dunkle Zelle. Das Einzige, das zu erzählen er sich nicht durchringen konnte, war Vinjinias schändlicher Verrat, vor allem, wie sie sich für Bilder mit tanzenden Frauen hergegeben hatte.
„Schauen Sie sich an, was Sikiokuu mir angetan hat! Sehen Sie den Kübel da? Das ist die Toilette. Wann haben die den das letzte Mal geleert? Vor einer Woche! Zum Glück muss ich nicht oft scheißen. Und trotzdem ist der Kübel fast voll.“
„Nur von dir?“
„Ja. Seit ich hier bin, war niemand anderes in dieser Zelle. Wie kann er es wagen, mir so etwas anzutun? Was soll ich dagegen tun?“
„Was glaubst du?“
„Kennen Sie das Sprichwort: Wenn zwei Elefanten kämpfen, muss das Gras leiden? Ich fühle mich wie das Gras beim Kampf zwischen Sikiokuu und Machokali um die Macht hinter dem Thron. Das Problem ist, Sikiokuu hat nicht klar gesagt, was er von mir erwartet.“
„Wie klar soll er sich denn noch ausdrücken, nach dem was du mir über seine Fragen zu Machokali erzählt hast?“
„Er hat Machokalis Namen nicht einmal erwähnt. Er war übervorsichtig und hat in Rätseln zu mir gesprochen über einen Anhänger des ungläubigen Thomas, einen Franzosen namens Descartes. Dann meinte er, ich solle gehen und tiefgründiger über mein Verlangen nachdenken, weiß sein zu wollen.“
„Begreifst du nicht: Er will nur, dass du mit eigenen Worten erklärst, es hätte dich jemand anderer mit dem Weiß-Wahn angesteckt. Wen kannst du herausgreifen und von ihm behaupten: Der und der hat mich angesteckt oder der da ist der Träger der Krankheit? Gibt es irgendjemanden unter denen, die du deine Freunde nennst, der nicht an dieser Krankheit leidet, an dieser weißglühenden Gier hinter der eigenen Ich-Bezogenheit? Der Mann hatte völlig recht, dich aufzufordern, über die Bedeutung und Auswirkung dessen nachzudenken, was du gesagt hattest. Was willst du machen, wenn du mit dem Grübeln fertig bist?“
„Genau das will ich wissen. Was soll ich machen?“
„Befrag dich zuerst einmal selbst.“
„Natürlich muss man sich fragen, wo die eigenen Interessen liegen und wie man sie am besten schützt.“
„Ich meine, du sollst in dein Herz schauen, herausfinden, warum du hier gelandet bist.“
„Ich hab mich nicht selber eingesperrt.“
„Wer dann?“
„Ich will Ihnen eins sagen: Sikiokuu und Kaniũrũ sind meine Feinde. Sie wollen mich im Gefängnis sterben lassen. Und warum? Weil Sie nicht wollen, dass ich weiterhin der Vorsitzende von Marching to Heaven bin. Sie wollen mich beseitigen, bevor die Arbeiten beginnen. Sie wollen den Profit des ganzen Projekts allein einstreichen. Aber die sollen mich kennenlernen. Die haben keine Ahnung, mit wem sie es zu tun haben, Mr. Herr der Krähen. Helfen Sie mir. Bitte helfen Sie mir, aus diesem Gefängnis herauszukommen, und ich werde Ihnen das nie vergessen.“
„Aus welchem Gefängnis willst du herauskommen?“
„Mr. Herr der Krähen, das ist eine ernste Angelegenheit. Wie viele Gefängnisse sehen Sie denn, wenn Sie sich umschauen?“
„Zwei. Ein Gefängnis der Seele und eines für den Körper.“
„Dann bringen Sie die Mauern dieser Gefängnisse mit der Macht Ihres Spiegels zum Einsturz!“
„Ich habe meinen Spiegel nicht dabei.“
„Oh!“, stöhnte Tajirika verzweifelt.
„Wie wär’s, wenn wir uns unseren eigenen Spiegel schaffen?“, fragte der Herr der Krähen plötzlich.
„Wie denn?“
„Mit unseren Seelen. Gibt es einen großartigeren Spiegel als den Spiegel der Seele?“
„Wie Sie meinen.“ Tajirika war glücklich darüber, dass der Herr der Krähen jetzt davon sprach, einen Spiegel zu verwenden, irgendeinen Spiegel, egal, woher der kam.
„Schließ die Augen … Stell dir Sikiokuu und Kaniũrũ vor.“
Er will mir helfen, indem er die Macht der beiden Kerle außer Gefecht setzt, sagte sich Tajirika, während er mit aller Kraft versuchte, sich Sikiokuu und Kaniũrũ vorzustellen. Aber die Bilder im dunklen Spiegel seiner Seele wollten nicht stillstehen.
„Erst sehe ich sie und dann wieder nicht“, sagte Tajirika. „Sie entgleiten mir ständig.“
„Es ist nicht schlimm, wenn die Bilder undeutlich sind“, erklärte der Herr der Krähen. „Und jetzt zeig auf die, die das Land führen. Zeig mir, wo sie sind.“
Das ist ja leicht, dachte Tajirika, streckte die Hand aus und deutete in die Ferne. Doch der Finger bewegte sich wie die Bilder vor seinem geistigen Auge.
„Dort drüben“, sagte Tajirika, der immer noch unbestimmt nach vorne zeigte.
„Bleib so“, sprach der Herr der Krähen. „Jetzt mach die Augen auf. Und zeig weiter auf die Bestechlichen und Gierigen.“
Tajirika tat, wie befohlen. Sein Herz hämmerte vor Freude über den unmittelbar bevorstehenden Tod seiner Feinde, dieser gierigen und korrupten Straßenräuber.
„Und nun schau deine Hand ganz genau an: Ein Finger zeigt auf deine Feinde, aber die anderen drei zeigen auf dich.“
„Ich verstehe nicht ganz.“
„Was verstehst du nicht? Erinnerst du dich noch an die Kindergeschichte über die fünf Finger, die sich aufmachen, jemanden auszurauben? Pinky sagt: ‚Los, gehen wir.‘ – ‚Wohin? Was wollen wir tun?‘, fragt der Finger daneben. – ‚Stehlen‘, spricht der Mittelfinger. – ‚Was, wenn man uns erwischt?‘, will der vierte Finger wissen. – Und weißt du, was der Daumen sagt?“
„Ich gehöre nicht dazu“, antwortete Tajirika, nahm die Rolle des Daumens ein und lachte schließlich.
„Deshalb ist der Dicke noch heute von den anderen vier Fingern getrennt. Ein Dieb steht getrennt von den anderen und zeigt auf …“
Tajirika betrachtete wieder seine Faust. Es stimmte, der Zeigefinger und drei andere zeigten in eindeutige Richtungen. Wohin und auf was deutete der Daumen? Das ließ sich nicht sagen. Doch plötzlich glaubte er zu wissen, worauf der Herr der Krähen hinauswollte.
„Man kann also sogar aus Kindergeschichten noch das eine oder andere über den Lauf der Welt lernen“, sagte er aufgeregt. „Mr. Herr der Krähen, ich weiß jetzt, was Sie mir verdeutlichen wollen: Es ist wie mit diesen vier Fingern – die Dummen vertreten eindeutige Positionen. Jeder weiß, wo sie stehen. Ich war immer zu einseitig bei der Auswahl der Leute, mit denen ich mich umgab. Ich sollte in Zukunft besser das trügerische Auftreten des Daumens einnehmen. Haben Sie vielen Dank, Mr. Herr der Krähen, tausend Dank.“
„Kein Wunder, dass Jesus weinen musste!“, sprach der Herr der Krähen laut, als würde er mit sich selbst reden. Er war sichtlich verzweifelt.
„Warum reden Sie davon, dass Jesus geweint hat?“, fragte Tajirika, verwirrt über die Gedankengänge des Herrn der Krähen. Jetzt hatte er es also mit der Bibel.
„Weil er den Leuten Wahrheiten gesagt hat und sie nicht hörten, obwohl sie Ohren hatten. Er zeigte ihnen Dinge, und obwohl sie Augen hatten, sahen sie nicht.“
Er verwendet sogar die Heilige Schrift für seine Riten. Deshalb ist sein Zauber so mächtig, dachte Tajirika. Wenn er es sich in den Kopf gesetzt hat, dann gibt es nichts, was den Herrn der Krähen davon abhalten kann, etwas für Leute wie mich zu tun.
„Und deshalb heißt es auch, selbst Gott kann nur denen helfen, die sich selbst helfen“, sprach der Herr der Krähen.
„Mr. Herr der Krähen, wie soll ich mir helfen, damit Sie mir helfen können?“, fragte Tajirika ermutigt.
„Noch einmal: Schau in dein Herz. Sieh dir an, was in dir ist.“
„Wie denn?“
Dieser Mann denkt nur an sich, dachte der Herr der Krähen. Er hört und sieht nur das, was er will. Kamĩtĩ wa Karĩmĩri, der Herr der Krähen, wurde zornig, sehr zornig.
Er hatte nicht vergessen, wie Tajirika ihn auf dem Gelände der Eldares Modern Construction and Real Estate gedemütigt hatte; dann und wann überkam ihn die Erinnerung daran. Er hatte nie geglaubt, dass ein Mensch sich einem anderen gegenüber so böse und arglistig verhalten könnte. Kamĩtĩ hatte zwar längst beschlossen, sich nicht zu rächen, weil das den Unterschied zwischen ihm und Tajirika aufheben würde. Diskutiere nicht mit einem Trottel, besagte das Sprichwort, denn die Leute könnten den Unterschied nicht bemerken.
Aber jetzt beschloss er, dem Gedächtnis des Mannes ein wenig auf die Sprünge zu helfen und ihn an ihre erste Begegnung zu erinnern. Er wollte herausfinden, ob Tajirika sich inzwischen schämte. Menschen wie ihm, die so ichbezogen waren, musste man die Dinge direkt ins Gesicht sagen.
„Soll ich dir eine Geschichte erzählen?“, fragte er Tajirika.
„Ja“, antwortete Tajirika. „Ich hör sie mir gern an, wenn sie Ihnen hilft, mich ganz schnell aus diesem Gefängnis rauszukriegen.“
„Was dieses Gefängnis angeht, bin ich mir nicht so sicher, aber wenn du der Geschichte aufmerksam lauschst, könnte sie dir helfen, dich aus einem Gefängnis zu befreien, das viel größer ist als dieses aus Stein und Eisen.“
„Ich wusste es. Ich wusste, dass Sie deshalb gekommen sind. Ich wusste, dass Sie mich niemals in diesem Gefängnis hätten verrotten lassen. Also erzählen Sie bitte Ihre Geschichte, fangen Sie sofort an, und ich verspreche Ihnen, ich werde mir nicht einmal ein Hüsteln erlauben, das Sie unterbrechen könnte.“