18

Kamĩtĩ machte sich Sorgen, weil Arigaigai Gathere befördert und in das Büro des Herrschers versetzt worden war. Das Ganze trug sich nämlich unmittelbar nach Kamĩtĩs dilettantischem Hokuspokus zu. Was, wenn sein Spiel mit der Magie etwas damit zu tun hatte? Besaß er, ohne es zu wissen, tatsächlich okkulte Kräfte? Er befand sich zweifellos in Schwierigkeiten.

Er hatte ein Spiel aus seiner Kindheit aufgegriffen, um einem Polizisten zu entkommen. Doch jetzt, nach seiner Beförderung, würde Constable Arigaigai Gathere auf die Jagd nach Staatsfeinden gehen. Nyawĩra hatte eben zugegeben, Mitglied der Bewegung für die Stimme des Volkes zu sein. Was sollte A.G. davon abhalten, unter dem Deckmantel weitere Weissagungen haben zu wollen, Nachforschungen bei ihnen anzustellen. Kamĩtĩ kam sich schutzloser vor denn je.

Kamĩtĩ wollte ein normales Leben führen, abseits der Politik. Seiner Abneigung politischem Engagement, vor allem Massenbewegungen gegenüber lagen Erfahrungen seiner Familie zugrunde. Sein Vater, ein ehemaliger Grundschullehrer, hatte seine Stelle verloren, weil er versucht hatte, die Lehrer seiner Region in einer Gewerkschaft zusammenzuschließen. Und sein Großvater war in den Kämpfen für die Unabhängigkeit Aburĩrias ums Leben gekommen. Politische Auseinandersetzungen hatten seiner Familie nur Elend beschert, und er wollte nichts mit ihnen zu tun haben. War es nicht Ironie des Schicksals, dass ihm eben dieses politische Leben, das er so entschieden zu meiden versucht hatte, nun durch das Handeln anderer aufgezwungen wurde? Was, wenn A.G. wie angedeutet wieder auftauchte, um den Herrn der Krähen zu bitten, seine Kräfte einzusetzen, die Geheimnisse der regierungsfeindlichen Bewegung und ihrer Anhänger zu enthüllen? Würde es ihm gelingen, sich durch weitere Erfindungen aus dieser Zwickmühle herauszuwinden? Wenn Nyawĩra ihm bloß verschwiegen hätte, dass sie darin verwickelt war! Er fürchtete, es könnte etwas an seinen verrückten Einbildungen dran sein, wie die Wendung im Leben des Polizisten gezeigt hatte. Würde er am Ende unabsichtlich die Wahrheit über die Frau verraten, die so liebenswert gewesen war? Nein, Nyawĩra und Constable Arigaigai Gathere mochten ihn später vor die Qual der Wahl stellen. Er würde nicht herumsitzen und darauf warten, dass einer von beiden zurückkäme; er musste sich von beiden fernhalten. Mit diesem Entschluss fühlte er sich augenblicklich besser.

In Gedanken stimmte er ein Lied an – „Ich gehe …“ –, aber wie aus dem Nichts hörte er die vereinten Stimmen von Nyawĩra und Constable Arigaigai Gathere, die dieselbe Melodie mit einem anderen Text unterlegten: „Nein, du gehst nicht.“ Ihre Stimmen kamen ihm so real vor, dass er sich zurückrufen hörte: „Nein! Ihr könnt mich nicht aufhalten“, obwohl er das Gefühl hatte, seinen Wohltätern gegenüber grob zu sein. Er war nicht mehr der mittellose Bettler, der er war, als er Nyawĩras Haus zum ersten Mal betrat. Er hatte jetzt das Geld des Polizisten. Doch er hätte es niemals bekommen, wenn ihm Nyawĩra nicht eine Bleibe geboten hätte.

Er ging hinaus und grub den Behälter mit seiner Beute aus. Sie roch wie ein verwesender Leichnam. Er eilte ins Haus zurück, steckte die Plastikschachtel mit dem Geld in seine große Betteltasche, zog seine Jacke an, warf sich die Tasche über die Schulter und ging zur Tür, in der Absicht in den Straßen von Eldares zu verschwinden.

Vor der Tür stand ein Mann.

Der Fremde sah schwach aus, krank und müde.

Hier muss der Schrein des Herrn der Krähen sein, sagte der Fremde, und ohne auf Bestätigung zu warten, begann er zu klagen. Er leide, sagte er, unter ungeheuren Leibschmerzen.

„Ich will nicht behaupten, dass ich verhext bin, aber ich habe kein Geld und kann deshalb nicht ins Krankenhaus. Ich möchte von Ihnen nur ein paar Wurzeln und Blätter zum Kauen, damit die Schmerzen vergehen.“

Kamĩtĩ versuchte zu leugnen, der Herr der Krähen zu sein, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Die unerwarteten, abrupten Wendungen in seinem Leben wurden ihm langsam unheimlich. Der Alte zwang ihn auf einen Weg, den er nicht gehen wollte.

„Warte hier auf mich“, sagte er dem Mann, nachdem er ein paar flüchtige Fragen zu dessen Krankheit gestellt hatte.

Er log; er wollte davonlaufen. Kamĩtĩ ging durch das Grasland und wagte nicht, sich umzudrehen, aus Furcht, seine Entschlossenheit zu verlieren. Doch als er draußen im freien Feld war, nagten Zweifel an ihm. Was soll Nyawĩra denken, wenn sie von der Arbeit nach Hause kommt und einen Fremden, einen kranken alten Mann, vor ihrer Tür findet? Benahm er sich nicht wie der Esel im Sprichwort, der seine Dankbarkeit zeigt, indem er seinen Wohltäter tritt? Nyawĩra hatte ihm Obdach und Essen gegeben, hatte ihn in der Nacht vor den Toren des Paradise vor der Verhaftung bewahrt. Sie war es, die ihn aus den bevölkerten Straßen der Stadt hinaus ins Grasland geführt und ihm Wärme und Gastfreundschaft geschenkt hatte. Alles, was er ihr nun zurückgab, war sein wortloses Verschwinden – seine Art von Dankbarkeit. Dann fragte er sich: Woher kannte sie sich im Grasland so gut aus? Er versuchte, das Dickicht wiederzufinden, das sie gerettet hatte, als die Polizei sie jagte. Er folgte den Spuren, und nachdem er eine Stunde lang gesucht hatte, fand er den Ort. In der Nacht ihrer Flucht war ihm nicht aufgefallen, dass sich der Buschwald weit außerhalb von Santalucia befand. In der Mitte des Gehölzes befand sich eine Erhebung, die von einem Pfad durchschnitten wurde. Kamĩtĩ setzte sich auf einen Stein, um die Dinge zu ordnen, die ihm durch den Kopf wirbelten.

Es tat ihm gut, wenn er sich zwischen Pflanzen und Bäumen aufhielt. Jetzt schien auch der Gestank aus seiner Tasche verschwunden zu sein. Seine Augen suchten die Umgebung ab, und bevor er sich dessen bewusst wurde, hatte die reiche Pflanzenvielfalt seine Neugier geweckt. Er streifte zwischen ihnen umher und suchte nach Pflanzen, die seiner Meinung nach Heilkräfte besaßen. Was er sammelte, verstaute er in seiner Tasche, ohne zu merken, wie die Zeit verrann. Aber diesmal wusste er, dass er die heilkräftigen Wurzeln und Blätter nicht für sich suchte, sondern weil ein Patient vor Nyawĩras Haus auf Heilung wartete. Vielleicht ist der Alte inzwischen gegangen, redete er sich ein, als er nach Santalucia zurückkehrte. Der Alte aber wartete noch immer geduldig vor der Tür.

Kamĩtĩ ließ ihn ein, gab ihm die Wurzeln und Blätter und wies ihn an, sie zu kochen und den Sud in regelmäßigen Abständen zu trinken.

„Und achte darauf, dass du den Extrakt während der Mahlzeiten trinkst“, fügte er hinzu.

„Mahlzeiten? Haben Sie Mahlzeiten gesagt? Glauben Sie wirklich, dass ich in den letzten Tagen etwas zu essen bekommen habe? Wenn die Wirkung dieser Medizin vom Essen abhängt, dann taugt sie nicht für mich.“

Kamĩtĩ ging in die Küche und bereitete Rühreier mit Tomaten und gab sie dem Alten zusammen mit einem Glas Milch. Nyawĩra hatte sicher nichts dagegen, wenn er großzügig mit ihren Vorräten umging. Er gab dem alten Mann ein Blatt und ein Stück Rinde zum Kauen. Dann kam ihm plötzlich eine Idee: Um von seiner Rolle als Herr der Krähen loszukommen, musste er sich von dem Geld trennen, das er damit einnahm. Und wie konnte er das besser erreichen als durch einen Akt der Wohltätigkeit? Also griff er in seine Tasche, nahm das ganze Bündel Geldscheine heraus, und gab es dem Alten als Teil der medizinischen Behandlung.

„Was ist denn?“, fragte Kamĩtĩ besorgt. Der alte Mann hatte beim Anblick des Geldes aufgeschrien. Kamĩtĩ glaubte zunächst, der Schrei des Alten rühre vom Gestank des Geldes, was ihn darin bestärkte, ihn nicht allein wahrzunehmen. Aber der alte Mann hatte vor Freude, Dankbarkeit und Staunen geschrien.

„Ich fühle mich schon besser, fast geheilt. Sie sind wahrhaftig ein Zauberer und ein Hüter der Gerechtigkeit; möge der Herr im Himmel Sie immer segnen.“

„Woher wusstest du, wo ich mich aufhalte?“, fragte Kamĩtĩ.

„In Santalucia reden alle über Sie. Und es ist ganz klar, warum. Zauberheiler werben nie öffentlich für sich. Sie verrichten ihre dubiose Arbeit im Dunkeln. Sie aber haben an Ihrem Haus eine Botschaft angebracht. Was soll das bedeuten? Doch nichts anderes, als dass Sie im hellen Licht des Tages tätig sind. Eine Gottheit hat mich bei der Hand genommen und meine Schritte geradewegs zu Ihrem Haus gelenkt. Möge eben diese Gottheit Sie segnen, damit Ihre Kunst blühe, das Böse zu bannen und das Gute zu fördern!“

Anstatt über diese Nachricht erheitert zu sein, spürte Kamĩtĩ, dass er schwermütig wurde. Ihm war klar, dass er von hier verschwinden musste, noch bevor sich die Nachricht vom Zauberer weiterverbreitete. Er hatte den alten Mann behandelt. Er war das Geld losgeworden. Wie dumm von ihm, den Anschlag so lange an der Veranda hängen gelassen zu haben! Als er den alten Mann hinausbegleitete, nahm er seine Tasche auf. Diesmal würde es keine Umkehr geben.

Jetzt aber war es an ihm, einen Schrei der Überraschung, ja der Bestürzung, auszustoßen. Wie angewurzelt blieb er stehen. Er fürchtete umzufallen und starrte ungläubig hinaus. Draußen warteten zehn weitere Patienten. Der alte Mann zwinkerte ihm zu, als wollte er sagen: Du kannst dich nirgendwo mehr verstecken. Du musst deine Rolle als Heiler annehmen! Warum ausgerechnet hier?, dachte Kamĩtĩ. Eine Laune des Schicksals. Jedes Mal, wenn ich zu entwischen versuche, stellt es sich mir in den Weg.

Er ging zurück in die Küche, um sich geduldig seinen Patienten zu widmen, einem nach dem anderen.

Dabei erwartete ihn eine weitere Überraschung. Der erste erklärte ihm, alle zehn seien Polizisten in Zivil. Waren sie gekommen, um ihn abzuholen?

„Wir möchten, dass Sie denselben Zauber anwenden, den Sie bei unserem Kollegen Constable Arigaigai Gathere angewendet haben. Er war ein Niemand bei der Verkehrspolizei, jetzt ist er eine große Nummer im Büro des Herrschers. Herr Zauberer, wir wünschen uns, dass Sie den Spiegel einsetzen und alle Feinde auskratzen, die unseren Gehaltserhöhungen und Beförderungen im Wege stehen.“

Die zehn redeten und hoben die Bedeutung des Spiegelzaubers hervor und würzten jeden Satz mit seinem Namen, oder zumindest mit einer Bezeichnung, von der sie glaubten, dass sie auf ihn zuträfe, bis er selbst es vor sich sah, ein Schild mit blitzenden Neonlichtern: HIER IST DER SCHREIN DES HERRN DER KRÄHEN.

Herr der Krähen
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